Am Montagmorgen klingelte der Wecker sehr, sehr früh. Es war gerade einmal 4.30 Uhr. Elias gähnte neben mir. „Können wir nicht noch liegen bleiben?", klagte er verschlafen. „Ich glaube, du bist derjenige, der den Flieger unbedingt kriegen sollte", lachte ich ihn - so gut es in der frühmorgendlichen Verfassung eben ging - aus. „Ich will einfach hier mit dir im Bett liegen bleiben und kuscheln. Das fände ich viel schöner", grummelte er vor sich hin. „Würde ich auch gerne. Aber viel lieber würde ich deine Heimat kennenlernen, und das geht nicht, wenn wir beide jetzt nicht gleich aufstehen." Elias quälte sich aus dem Bett, ich hingegen war etwas fitter. Bei mir war es aber wirklich die Vorfreude. Ich würde noch heute ein neues Land sehen. Und es war meine erste Reise mit meinem Fast-Freund. Das war etwas Besonderes. Für Elias selbst war der Trip nicht mehr als eine Verpflichtung. Die Nationalmannschaft rief nämlich. Das verdrängte ich immer wieder, dann rief ich es mir aber doch wieder ins Gedächtnis. Ich hoffte darauf, dass Elias recht hatte und er wirklich noch viel Zeit für mich übrig hätte. Sonst würde ich mir auf der Insel wohl ziemlich verloren vorkommen.
Zwei Stunden später standen wir am Hamburger Flughafen, gaben unser Gepäck auf und warteten am Gate, bis unser Flug aufgerufen wurde. Jetzt wurde ich etwas nervös. Elias würde mich in seine Welt führen, ich würde ihn als Privatperson dadurch besser kennenlernen.
Am späten Vormittag waren wir in seiner Heimat – auf den Faröer Inseln – gelandet. Gerade warteten wir am Gepäckschalter auf unsere Koffer. Es dauerte einen kurzen Moment, dann rollten unsere Taschen daher. Ich war schon etwas aufgeregt, doch Elias legte schützend einen Arm um mich. Das half. „Mein Bruder holt uns gleich ab", verkündete er überraschend. „Dein Bruder?" „Naja, hier gibt es nicht so viele öffentliche Verkehrsmittel wie in Deutschland. Wir könnten Bus fahren, aber dann wären wir ein paar Stunden unterwegs. Wir müssten erstmal warten, bis der Bus hier überhaupt ankommt", lachte der Handballer.
Ich wusste ja, dass die Faröer Inseln klein waren, aber so klein hatte ich sie wirklich nicht erwartet. Am Flughafen war auch kaum was los. Wir liefen nach draußen. Es war kalt hier und ich fror. Etwas Schnee bedeckte schon die Landschaft, aber es sah wunderschön aus. „Wohin fahren wir denn?" „Rói fährt uns erstmal ins Hotel, wo wir auch mit der Nationalmannschaft untergebracht sind. Keine Sorge, ich habe uns schon ein Doppelzimmer reservieren lassen", klärte Elias mich auf, wie wenn es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt wäre. „Normalerweise geht das aber bestimmt nicht, oder?" Elias lachte bloß: „Wir sind nicht so professionell wie andere Teams, das ist alles viel Familiärer bei uns. Du wirst es schon sehen. Mach dir deswegen keine Sorgen." Etwas anderes als ihm zu glauben, blieb mir ohnehin nicht übrig, also diskutierte ich auch nicht weiter.
„Da vorne ist er!", strahlte Elias auf einmal und zeigte auf einen jungen Mann mit denselben Locken, die auch er hatte. Wir kamen bei ihm an und er stellte sich als Rói vor. Den Namen hatte ich noch nie gehört, auf den ersten Eindruck wirkte er aber sehr sympathisch. Er war etwas größer als Elias, aber dass sie Brüder waren, konnten sie wirklich nicht leugnen. „Du bist das erste Mal hier?", fragte mich Rói auf dem Weg zum Auto. „Ja, war auch sehr spontan, dass ich mitgekommen bin" erzählte ich. „Elias hat es gesagt. Seit wann kennt ihr euch?" „Gute Frage", überlegte ich, „So zwei Monate etwa." „Weniger glaub sogar, Ende September hatten wir unser Date", erinnerte sich Elias. „Und seit wann seid ihr dann zusammen?", fragte Rói weiter. Sein Bruder antwortete: „Noch gar nicht, aber vielleicht ja nach dieser Woche." Er drehte sich zu mir und lächelte mich an. Elias kassierte von Rói einen Schlag in den Nacken und die beiden unterhielten sich kurz in ihrer Landessprache.
Auf der Autofahrt betrachtete ich fasziniert die Gegend. So eine schöne Natur hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Alle paar Minuten fuhren wir an einem kleinen Örtchen vorbei, aber viele Menschen konnten hier tatsächlich nicht leben. Immer wieder fuhren wir durch längere Tunnel hindurch. Die Jungs erklärten mir: „Die Tunnel verbinden die einzelnen Inseln miteinander. Ansonsten könntest du dich hier nicht so einfach mit dem Auto fortbewegen, weil alle paar Kilometer das Meer kommen würde." „Wo fahren wir denn jetzt hin?", wollte ich wissen. „Nach Tórshavn, das ist unsere Hauptstadt", klärte Elias mich auf. „Hast du da dann auch früher Handball gespielt?" „Fast. Einen Ort weiter. In Hoyvík. Den Ort werde ich dir auf jeden Fall zeigen. Es ist wunderschön dort. Ein kleiner Weg führt direkt ans Meer. Dort haben wir uns früher in der Jugend immer getroffen." Rói schwelgte in den Erinnerungen mit. Die beiden Brüder haben früher sehr viel gemeinsam gemacht, da es hier auf den Inseln einfach nicht viele Gleichaltrige gab. „Unsere zwei besten Freunde werde ich dir auf jeden Fall auch noch vorstellen. Die musst du unbedingt kennenlernen", schwärmte Elias weiter und es freute mich, ihn so glücklich zu sehen.
Nach einer guten Dreiviertelstunde kamen wir in Tórshavn an. Elias bedankte sich bei seinem Bruder fürs Abholen und wir luden unser Gepäck aus dem Kofferraum. „Wann wolltet ihr nach Hause kommen?", fragte Rói Elias am Schluss. „Mittwoch." „Mama und Papa freuen sich und sie freuen sich auch ganz arg, dich kennenzulernen, Vanessa", meinte Rói und nahm mich in den Arm. Dann wünschte er uns viel Spaß und fuhr davon.
„Am Mittwoch lerne ich also deine Eltern kennen?" Entschuldigend blickte Elias mich an: „Ich hätte es dir gleich sagen sollen. Ist das in Ordnung?" „Klar, ich wusste ja, dass du mich ihnen vorstellen möchtest, nur eben nicht wann." Wir blieben nochmal kurz stehen. Ich war so glücklich, ich musste Elias jetzt einfach küssen. Er erwiderte und schlang seine Arme fest um meinen Körper. „Du bist ja ganz durchfroren", stellte er fest, „Komm, gehen wir rein."
Wir bezogen unser Hotelzimmer. Während Elias seinen Koffer auspackte, starrte ich weiterhin fasziniert aus dem Fenster. Die Gegend hatte so eine beruhigende Wirkung auf mich. Mein ganzer Alltagsstress war verflogen. „Wann startet eigentlich euer Training?", wollte ich schließlich wissen. „Erst morgen. Ich habe mir überlegt, dass wir heute noch die Stadt ein bisschen anschauen. Was hältst du davon?" „Klingt super", lächelte ich. Es fühlte sich längst schon so an, als wäre Elias mein fester Freund. Ich musste mich selbst immer wieder daran erinnern, dass das noch nicht der Fall war. Es fühlte sich doch alles so vertraut und richtig an.
Wir zogen uns frische Klamotten an und ich packte die dickste Winterjacke aus, die ich daheim in meinem Schrank finden konnte. Dazu Schal, Mütze und Handschuhe. Die Sonne stand schon sehr tief und spendete der Insel ein traumhaft schönes Licht. Hand in Hand liefen wir durch kleine Gassen, Wiesen, Steine und schmale Wege, die direkt zum Meer führten. Elias machte ein paar Fotos von mir und von uns. Gerade war es mir zu kalt, selbst Bilder zu machen. Dafür hatte ich auch noch die ganze Woche Zeit. In einem kleinen Café hielten wir an und bestellten heiße Schokolade. Diese wärmte mich zumindest wieder etwas auf. Dann ging es zurück ins Hotel, denn es gab bald Abendessen.
Als ich am Abend neben Elias im Bett lag, war ich überglücklich. So einen schönen, aufregenden, ereignisreichen Tag hatte ich schon lange nicht mehr. Es fühlte sich an, als wären Elias und ich seit Ewigkeiten zusammen, als wäre sein Bruder mein bester Freund. Ich konnte gar nicht beschreiben, was der Tag heute in mir ausgelöst hatte – es war jedenfalls ein wunderschönes Gefühl. Da ich echt hundemüde war, dauerte es auch nicht lange, bis ich in Elias' Armen eingeschlafen war. Ich bekam noch mit, wie er mir einen Kuss auf die Stirn hauchte, dann versank ich ins Land der Träume.
Am nächsten Morgen klärte mich der Kieler Handballer beim Frühstück über den Tag auf: „Heute Morgen können wir es ganz entspannt gehen. Ich zeige dir paar Hot Spots, wo du tolle Bilder machen kannst. Dazu müssen wir nur ein paar Stationen mit dem Bus fahren. Um 12 Uhr treffe ich mich dann mit der Nationalmannschaft zum Mittagessen, danach haben wir eine kurze Trainingseinheit und heute Abend ist noch ein gemeinsames Beisammensitzen geplant, da kannst du dann auch mitkommen. Ich glaube, von zwei, drei anderen Spielern ist auch noch die Freundin dabei." Ich nickte. Um halb zehn verließen wir das Hotel und liefen zur nächstgelegenen Bushaltestelle. Da ich vorhatte, die Insel selbst ein wenig zu erkunden, besorgte mir Elias ein Ticket, mit dem ich überall hinkonnte, und das ich auch die kommenden Tage nutzen konnte. Wir fuhren ein paar Stationen mit dem Bus, dann stiegen wir aus.
Elias musste kurz darauf leider schon wieder gehen, ich hatte beschlossen, hier zu bleiben und Fotos zu machen. Ich hatte wenig Erfahrung mit Landschaftsfotografie und wollte mich einfach ein bisschen ausprobieren. Zum Abschied küsste mich Elias noch einmal, dann machte er sich auf den Weg zu seiner Nationalmannschaft. Um 16 Uhr wollten wir uns wieder im Hotel treffen.
Um die Mittagszeit suchte ich mir einen Supermarkt auf und wollte mir eigentlich nur schnell etwas zum Essen holen. Ich war jedoch so begeistert von den Produkten, die es hier auf der Insel gab, dass ich mich ziemlich lange in diesem kleinen Laden aufhielt. Mich begeisterte hier einfach alles. Um halb drei machte ich mich dann aber wieder auf den Rückweg nach Tórshavn. Ich wusste nicht, wie lange die Fahrt dorthin dauern würde und ob ich überhaupt in die richtige Richtung fuhr. Irgendwie sah hier ja schon alles gleich aus und auch die ganzen Ortschaften klangen für mich ähnlich. Letztendlich war ich viel zu früh zurück, aber das war nicht schlimm, da ich ohnehin noch duschen wollte, ehe Elias vom Training zurückkam und wir zu seiner Mannschaft gehen würden.
Während das heiße Wasser über meinen Körper prasselte, dachte ich darüber nach, was Karl wohl darüber dachte, dass ich jetzt hier mit Elias war. Er hatte in letzter Zeit echt versucht, über der Sache zu stehen, aber ich merkte auch, dass es ihm eigentlich nicht gutging. Es war nie meine Absicht, Karl zu verlieren, nur um Elias zu haben. Es musste doch irgendeinen Weg geben, wie wir das zu dritt schafften...
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Sweet Lies
FanfictionEine Beziehung, die bereits auf einer Lüge aufbaut, kann keine Zukunft haben. Das weiß auch die 23-Jährige Vanessa, doch der Reiz und die Versuchung ist größer. Sie kann einfach nicht widerstehen, auch wenn sie genau weiß, dass ihr Verstand etwas An...