[63]

42 4 2
                                    

„Ich dachte, der Brief war dir so wichtig", sagte Karl irritiert und betrachtete die zerrissenen Papierfetzen in meiner Hand. „Bis vor einer Stunde, ja", meinte ich überzeugt. „Was hat deine Meinung geändert?" „Ein persönliches Gespräch", antwortete ich und blickte zu Elias. Dieser kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. „Kann ich euch beiden auch nur empfehlen", schob ich hinterher, nachdem ich merkte, wie eisig die Stimmung gerade war. Wenn das im Training und bei den Spielen genauso war, dann wunderte es mich nicht, dass die THW Jungs gerade so schlecht spielten.

Ich stieg auf mein Fahrrad, das ich jetzt bestimmt eine halbe Stunde neben mir hergeschoben hatte und machte mich auf den Heimweg. Was aus Karl und Elias wurde, wusste ich nicht. Die Zebras waren noch am selben Abend zum Auswärtsspiel aufgebrochen, daher sah ich Karl auch zuhause nicht mehr.

...

Es war einige Zeit vergangen. Karl war in letzter Zeit wieder etwas komisch zu mir geworden. Er meidete meine Nähe und war oft nicht zuhause. Hatte er wieder mit Elias angebandelt? Ich hätte es früher wissen müssen, dass ich für beide nur ein Zeitvertreib und das fünfte Rad am Wagen war. Ich war die Ablenkung, die beide brauchten. Nicht mehr und nicht weniger.

Jakob, mein neuer Mitarbeiter, war bereits im Studio, als ich an diesem Morgen schlecht gelaunt und mit Augenringen den Laden betrat. „Huch, was ist denn mit dir los?", fragte er erschrocken. „Läuft grad alles scheiße", grummelte ich. „Aber wir haben doch deinen Laden retten können. Du machst gerade wieder Plus." „Das läuft vielleicht, aber privat geht alles den Bach runter", seufzte ich. Ich hatte keine Lust, über meine Probleme zu sprechen. Es war schrecklich, wenn Karl nicht in meiner Nähe war, wenn ich ihn nicht täglich sehen konnte, wenn ich niemanden hatte, der in jeder Lebenslage für mich da war. Karl war mein Ruhepol am Abend, wenn ich mal wieder einen stressigen Tag im Studio hatte, er hörte mir zu und brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Wir konnten auch mal lästern, unsere Witze machen oder einfach nur dumm sein. Seine gnadenlos ehrliche Art und sein offenes Ohr fehlten mir so sehr. Ich vermisste ihn!

Ohne dass ich es wollte, erzählte ich Jakob all das. Zum Schluss lächelte er mich an und meinte: „So wie du von ihm schwärmst, ist nicht alltäglich. Du magst ihn wirklich sehr. Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, dass er vielleicht doch nicht nur dein bester Freund ist?" Ich wurde still. Tatsächlich war es in den letzten Wochen nicht das erste Mal, dass ich drüber nachgedacht hatte. Nur laut ausgesprochen hatte es keiner. Wie auch? Ich war ja kaum in Kontakt mit anderen Menschen. „Allein der Gedanke macht mir Angst", offenbarte ich. „Wieso? Weil ihr euch schon so lange kennt?" „Ja, und wir wohnen zusammen. Was, wenn es nachher nicht funktioniert? Ich will ihn nicht verlieren." „Allein schon die Tatsache, dass ihr seit über einem, nein seit fast schon zwei Jahren zusammenwohnt, spricht Bände. Wie viele Beziehungen scheitern an dem Punkt, an dem beide zusammenziehen? Die Hürde habt ihr doch schon längst gemeistert. Eure Hürde liegt darin, euch einzugestehen, dass ihr Gefühle füreinander habt", sagte Jakob. „Karl hat das schon getan. Das ist aber auch schon lange her. Ich weiß nicht, wie seine aktuelle Gefühlslage ist. Er ist ja kaum noch zuhause. Ich sehe ihn gar nicht mehr", zweifelte ich. Jakob dachte scharf nach und überlegte: „Vielleicht geht er dir gerade deshalb aus dem Weg. Er hat sich dir geöffnet, aber du konntest es nicht erwidern. Denkst du, er will täglich bei dir sein und sich anhören, dass er dein bester Freund ist?" „Wir haben doch darüber gesprochen", warf ich ein. Jakob erklärte: „Ja, habt ihr. Aber das ändert doch nichts an seinen Gefühlen. Vanessa, er liebt dich! Jetzt liegt es an dir, ihm zu sagen, dass du dasselbe empfindest." „Was, wenn er wieder was mit Elias angefangen hat? Ich würde das nicht ertragen." „Ihr müsst miteinander sprechen! Du gehst mir sonst noch kaputt. Das will ich nicht. Ich komme gerne zur Arbeit", lächelte Jakob. Das zu hören tat gut. Ich war dankbar, in Jakob so einen tollen und zuverlässigen Mitarbeiter gefunden zu haben. „Karl kommt erst morgen zurück", sagte ich traurig. „Dann schreib ihm doch eine nette Nachricht. Dann siehst du gleich, wie er reagiert", schlug mein Gegenüber vor. „Das mache ich", sagte ich und war schon wieder besser drauf.

Sweet LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt