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„Sicher?", fragte ich und schaute meinem Mitbewohner tief in die Augen. „Ich will einfach nicht alleine sein heute. Das ist alles." „Okay", flüsterte ich und lächelte leicht. Ich zog meine Schlafklamotten an und richtete mich im Bad, während Karl noch duschte. Ich war vor ihm fertig, also legte ich mich einfach schon mal in sein Bett und scrollte noch ein bisschen durch Instagram. Ich vernahm, wie die Dusche ausgeschaltet wurde. Kurz darauf legte er sich zu mir dazu und schaltete das Licht aus. Das brachte mich dazu, mein Handy beiseite zu legen. „Darf ich einen Arm um dich legen?", wollte er wissen. Ich antwortete nicht, sondern kuschelte mich einfach an seine Brust. Das sollte Zeichen genug sein.

„Du weißt, dass du der wichtigste Mensch für mich bist?", sagte Karl in die Dunkelheit. „Was ist mit Eric?" „Eric ist ein super Freund. Ich kann mit ihm lachen, ich kann mit ihm Spaß haben, aber vor dir muss ich mich nicht verstellen. Ich kann einfach so sein, wie ich bin."

Er eröffnete von sich aus das Thema, das mich vor ein paar Monaten schon einmal nachdenklich gestimmt hatte. „Kannst du das bei anderen Menschen nicht?", fragte ich vorsichtig nach. Karl legte sich die passenden Worte zurecht und meinte schließlich: „Wahrscheinlich könnte ich schon, aber es macht mir Angst." Kurz ließ ich seine Worte sacken, dann hatte ich doch noch eine Frage: „Woher kommt diese Angst?" „Ich glaube aus meiner Kindheit", seufzte er und suchte schon wieder nach der richtigen Formulierung. Schließlich gestand er: „Ich habe das noch niemandem erzählt. Ich... naja... ich war früher ein Mensch, der sich anderen sehr schnell geöffnet und viel von sich preisgegeben hat. Als Kind war das überhaupt kein Problem, aber je älter ich wurde, desto öfter hatte ich das Gefühl, genau dafür verurteilt zu werden. Es war nie eine konkrete Situation, die besonders ausschlaggebend dafür war, dass ich vorsichtiger geworden bin. Am Ende waren es viele kleine Momente, die sich mit den Jahren gehäuft haben. Immer wieder wurde ich verletzt, wenn ich mich jemandem anvertraut habe. Also habe ich mich irgendwann niemandem mehr anvertraut und alles mit mir selbst ausgemacht. Dann kamst du in mein Leben. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, du bist nicht wie die anderen. Du hast Offenheit und Toleranz ausgestrahlt. Schließlich hast du dich mir anvertraut, hast mir erzählt, was du in deiner Vergangenheit alles durchmachten musstest. Du warst in dem Moment ein Vorbild für mich, weil du trotz dieser scheiß Erfahrungen so lebensfroh warst. Das hat mir lange Zeit gefehlt, manchmal fehlt es mir noch heute. Es fehlt mir dann, wenn ich unter Menschen bin, die ich kaum kenne und die mich kaum kennen."

Karls Worte hallten in meinem Kopf nach. Ich wusste ja viel über sein Leben, aber über seine Vergangenheit hatte er nie gesprochen. Seine Geschichte erklärt aber auch sein Verhalten. Aber warum war er dann vor seiner Mannschaft so verschlossen? Genau das wollte ich von ihm wissen. „Ich verbringe viel Zeit mit ihnen, aber zu wenig, um mir sicher sein zu können, dass ich jedem einzelnen von ihnen vertrauen kann. Ich habe Angst vor diesen Kommentaren, die ich früher erfahren musste. Also sage ich lieber gar nichts und halte mich zurück. Eric öffne ich mich immer mehr, aber das braucht seine Zeit. Ich will mich vor keinem Menschen verletzlich zeigen. Ich weiß, dass ich dadurch für andere unnahbar und kühl wirke, aber es ist eine Art Selbstschutz für mich. Ich brauche das." Karls Worte erklärten all das, was für seine Mitspieler seit Jahren ein Buch mit verschlossenen Siegeln war. „Du bist der einzige Mensch, der es geschafft hat, durch meine Fassade durchzudringen", schob er hinterher. Wow. Ich wusste gar nicht recht, was ich sagen sollte. Es zerriss mir das Herz, weil ich wahrnehmen konnte, wie schwer es ihm fiel, über dieses Thema zu sprechen. Ich spürte seinen zitternden Körper und sein immer schneller pochendes Herz. Ich hatte nie gewusst, dass er in seinem Leben so viel Scheiße durchmachen musste. Er sagte selbst, dass es nie einen entscheidenden Auslöser gab, sondern die Summe an Enttäuschungen ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist.

„Würdest du manchmal gerne anders sein?", fragte ich ihn. „Grundsätzlich nein. Jede Narbe erzählt eine Geschichte und auch wenn man diese Narbe nicht sieht, ist der dahintersteckende Schmerz Teil meines Lebens und hat mich im Endeffekt stärker gemacht. Manchmal würde ich mir aber wünschen, ich würde mehr auf die Meinung anderer pfeifen, in der Hinsicht mehr Selbstvertrauen zu haben oder einfach mal zurückzuschießen. Niemand sollte sich anmaßen, über andere zu urteilen. Sei es aufgrund seines Aussehens, seiner Lebenseinstellung oder seiner Sexualität. Menschen urteilen an Stellen, an denen sie nichts zu urteilen haben. Das stört mich. Ich würde solchen Leuten gerne meine Meinung ins Gesicht sagen, aber dazu fehlt mir der Mut. Beziehungsweise es überwiegt die Angst, mir im Gegenzug Kommentare einzufangen, die mich wieder verletzen und an frühere Zeiten erinnern." „Das kann ich verstehen", entgegnete ich, „Wir werden durch diese Enttäuschungen alle stärker. Ich habe nach der Trennung von Maurice mich selbst erst so richtig kennengelernt. Darum kann ich es nachvollziehen, was du meinst. Wir haben beide zwar völlig unterschiedliche Dinge durchgemacht, aber wir sind beide daran gereift. Vielleicht sind wir gerade deshalb auch Freunde geworden, wer weiß." „Ich bin froh, so wie es jetzt ist", meinte Karl und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. „Ich auch", lächelte ich zurück und schmiegte mich enger an ihn heran. In dieser Position schliefen wir ein.

Sweet LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt