[17]

110 6 3
                                    

„Hast du nicht immer von diesem krassen Studentenleben gesprochen?", fragte Elias nach. Deprimiert senkte ich meinen Kopf: „Ich mache den Leuten bis heute vor, was für eine tolle Zeit ich während meines Studiums hatte. Die Wahrheit ist, dass ich erst mit dem Auslandssemester in Montpellier so richtig angefangen habe, dieses Leben zu leben." „Alles wegen eines Typen?" „Alles wegen eines Typen!", wiederholte ich seine Worte. „Das erklärt viel. Hat dein Ex die Trennung denn einfach so hingenommen?" Ich schüttelte den Kopf und erzählte: „Er war erst der Grund dafür, dass ich überhaupt ins Ausland gegangen bin. Ich musste einen klaren Schlussstrich ziehen und das konnte ich nur, indem er mich nicht 24/7 belästigen konnte. Und glaub mir, das tat er am Anfang. Jeden Tag klingelte er bei uns im Wohnheim. Uns trennten dann 1500 Kilometer. Das musste einfach genug sein. Und das war es auch. Als ich nach einem halben Jahr zurückkam, hatte er eine neue Freundin." „Und lass mich raten. In Montpellier konntest du das erste Mal du selbst sein?", vermutete er und lag damit richtig. „Es war die schönste Zeit meines Lebens, weil ich frei und unabhängig war. Ich konnte nochmal von vorne beginnen und das habe ich gebraucht. Heute kann ich stolz sagen, ich weiß, wer ich bin und was ich will. Ich kenne meinen Wert und lasse keinen Menschen mehr die Macht über mich haben. Das graue schüchterne Mäuschen gibt es nicht mehr!" „Ich habe dich von Anfang an als einen selbstbewussten, offenen Menschen kennengelernt. Ich finde es erschreckend zu wissen, was du dazu durchmachen musstest. Wie vielen Menschen geht es wohl genauso wie dir? Ich stelle gerade sehr viel in Frage", überlegte Elias und man sah ihm an, wie nachdenklich er geworden war.

Wieder sah ich eine völlig neue Seite an ihm. Eine verletzliche. Er kümmerte sich um das Wohl seiner Mitmenschen. Er versuchte herauszufinden, was sich hinter der Fassade seines Gegenübers befand und das war eine wunderschöne Eigenschaft. „Du bist ein toller Mensch, Vanessa. Du bist der stärkste Mensch, den ich kennengelernt habe!", sagte Elias und legte meine Hände in seine. „Danke, dass ich dir das erzählen durfte", lächelte ich schüchtern. „Danke, dass du es mir erzählt hast!", erwiderte er daraufhin, kam meinem Gesicht näher und drückte mir einen schwachen Kuss auf die Lippen, der mir in diesem Moment so wahnsinnig viel bedeutete.

„Weißt du", setzte ich etwas später an, „Vielleicht bin ich gerade wegen diesen Erfahrungen so erpicht darauf, eine Beziehung so zu führen, wie ich möchte und nicht so, wie andere sagen, dass sie geführt werden muss. Und zum Thema Eifersucht. Ich hatte nie einen Grund eifersüchtig zu sein. Ich war immer die Nummer Eins und daran hatte ich keinen Zweifel. Ich glaube, die Vorstellung, mich mit einem anderen Menschen teilen zu müssen, fällt mir schwer." „Du denkst wirklich, ich habe dich gestern geteilt?", fragte Elias erschrocken. Ich zuckte mit den Schultern, doch seine anschließenden Worte gaben mir so viel Mut und Sicherheit, dass ich nicht mehr zu zweifeln brauchte: „Das, was ich bei dir fühle, habe ich bei noch keinem anderen Menschen zuvor gefühlt. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, wie sich Liebe anfühlt, könnte ich das erste Mal nach 21 Jahren eine Antwort geben. Du gibst mir so viel. Ich liebe an dir deine Offenheit für Neues, deinen Drang, neue Dinge auszuprobieren. Du bist neugierig und gibst niemals auf. Das ist bewundernswert. Du bist eine bewundernswerte Frau. Eine Kämpferin!"

Das hatte noch keiner zu mir gesagt. Vor Überwältigung stand mir der Mund offen. Meine Unterlippe zitterte leicht. Er gab mir all das, was Maurice mir nicht gegeben hatte - Freiraum, eine eigene Meinung, Akzeptanz.

„Komm, zieh dir eine Jacke an. Ich möchte dir eine Frage stellen", meinte Elias überschwänglich. „Wozu eine Jacke?" „Weil ich dir diese Frage sicherlich nicht hier in diesem dunklen Hotelzimmer stellen werde!", grinste er und stand vom Bett auf. Etwas überrumpelt folgte ich seiner Anweisung. Zwei Minuten später standen wir in eisiger Kälte vor dem Hotel. Ich hatte die Temperatur unterschätzt. Wir liefen über die Straße in Richtung Meer. Da mein ganzer Körper vor Kälte zitterte, hatte Elias die ganze Zeit seinen Arm um mich gelegt. Auf die Frage, was er vorhatte, gab er keine Antwort.

Sweet LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt