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„Warst du schon mal in Berlin feiern, Vanessa?", wollte Rói wissen, als wir am späten Samstagabend loszogen. „Nein, ist tatsächlich mein erstes Mal", beantwortete ich seine Frage. Elias griff nach meiner Hand. „Was ist denn der aktuelle Stand zwischen dir und Lív?", wechselte ich das Thema. Sie wirkten auf der einen Seite so vertraut, auf der anderen Seite spürte man eine gewisse Verkrampftheit. Rói drehte sich kurz nach hinten, um zu überprüfen, dass die Mädels außer Hörweite waren. Dann meinte er: „Es ist kompliziert. Ich glaube, sie sieht das Ganze als Spaß an, und für mich ist es schon eher was Ernstes. Das macht die Sache nicht leichter." „Habt ihr mal darüber geredet?" Der Fähringer schüttelte den Kopf. „Dann wird es Zeit. Vielleicht nicht heute Nacht, aber ihr seid noch eine ganze Weile hier in Deutschland. Nutz die Gelegenheit", riet ich ihm. „Werde ich machen. Danke, Vanessa", lächelte Elias' Bruder. Elias selbst hielt sich aus dem Gespräch raus.

Kurze Zeit später kamen wir am Club an. Bevor wir reingingen, checkten wir nochmal, ob wir auch vollzählig waren. Bei so vielen Leuten verlor man schnell den Überblick. Ich ging voraus, die anderen folgten mir. Zuerst gaben wir unsere Jacken an der Garderobe ab, danach holten wir uns etwas zu trinken und im Anschluss ging es auf die Tanzfläche. Óli und Nora wirkten sehr vertraut. Von Lív erfuhr ich kurz darauf, dass sie seit ein paar Tagen nun offiziell zusammen waren. Die Gelegenheit nutzte ich, um sie nach Rói auszufragen. „Ach, ich sehe das alles locker. Ich will mir da auch gar keinen Stress machen." „Ich glaube, Rói mag dich wirklich", steckte ich ihr. Sie schaute zu ihm und sah zu, wie er sich zur Musik bewegte und dabei aus seinem Becher trank. „Ich mag ihn auch, aber ich brauche immer Zeit, wenn ich jemanden kennenlerne. Ich verliebe mich nicht einfach so von heute auf morgen in einen Menschen", erklärte Lív nachvollziehbar. „Kennt ihr euch nicht schon euer halbes Leben?", fragte ich lachend. Daraufhin meinte sie: „Ja, schon, aber dass da was zwischen uns laufen könnte, ist relativ neu. Mit dem Gedanken muss ich mich erst noch abfinden." Ich atmete einmal tief durch. Ich musste an Karl denken. Aktuell befand ich mich doch exakt in der Situation, die Lív gerade beschrieben hatte. Auch ich hatte nie darüber nachgedacht, wie es sein könnte, für einen sehr guten Freund plötzlich mehr zu empfinden.

Natürlich konnte ich ihr das schlecht sagen. Daher versuchte ich sie indirekt weiter auszufragen: „Glaubst du, da kann sich noch was entwickeln, das über Freundschaft hinausgeht?" „Ja, ja das glaube ich schon. Aber wie gesagt, ich brauche Zeit", verriet sie. „Wie hat es sich angefühlt, als ihr das erste Mal was miteinander hattet? Also so wirklich unbeobachtet und so?" War die Frage zu persönlich? Lív schien kein Problem damit zu haben. Offen redete sie los: „Es war im ersten Moment komisch. Ich meine, ich weiß quasi alles über ihn und plötzlich gibt es da diesen Kuss, der auf einmal so viel mehr Bedeutung hat. Man hinterfragt vieles. Ich habe aber keinen einzigen Moment an die Zukunft verschwendet. Ich habe mich nie gefragt, was morgen sein würde und so konnte ich mich auf ihn einlassen. Und es war wirklich schön. Ich habe nicht bereut, es getan zu haben."

„Lív, Vanessa, kommt schon!", ermahnte uns Óli und zog uns mit auf die Tanzfläche und hinein in die Menschenmenge. Damit war das Gespräch wohl beendet. Ich hatte viele neue Erkenntnisse gewonnen, die es mir tatsächlich einfacher machten. Doch spätestens als Elias sich von hinten an mich herantanzte, begriff ich wieder, wie groß mein Dilemma nur war. Bei Lív ging es natürlich auch darum, dass aus einer Freundschaft eventuell mehr werden würde, aber ihr saß zusätzlich kein Freund im Nacken, der vollkommen planlos von dem ganzen Drama war.

Pauli war relativ schnell mit einem Typen in Richtung Toiletten verschwunden. Das war mir natürlich nicht unrecht. So hatte ich Elias für mich alleine und nachdem wir eine Weile miteinander getanzt hatten, machten wir irgendwann eigentlich nur noch miteinander rum. Sein Bruder riss uns irgendwann auseinander und meinte: „Das kann man sich ja nicht anschauen mit euch. Sicher, dass ihr nicht ins Hotel zurückwollt?" Er grinste uns dreckig an. Elias entgegnete: „Vielleicht solltest du dich ja mal so an Lív ranschmeißen. Danach können wir weiterreden." „Außerdem schläft meine Schwester in Elias' Zimmer. Das wäre für alle Beteiligten unangenehm", fügte ich an. „Spießer!", beleidigte er uns grinsend und ging wieder davon. Offenbar peilte er den direkten Weg zu Lív an. Elias und ich schauten uns an und mussten beide lachen.

Gegen vier Uhr gingen wir zurück ins Hotel. Nach wie vor war die Schlafsituation ungewiss. Óli ging mit zu Nora, Lív und Rói waren sich noch uneinig. „Meine Schwester schläft sowieso", argumentierte ich dafür, dass Elias und ich zu ihr gingen. Vor allem, nachdem Óli sowieso woanders schlief. „Okay, machen wir es so", stimmte mein Freund zu.

Wir verabschiedeten uns alle voneinander. Es war wirklich ein toller Abend gewesen. Ich hatte die Zeit mit den Fähringern sehr genossen. Elias hielt seine Zimmerkarte an die Türe und das Schloss leuchtete blau auf. Vorsichtig schlichen wir in das Zimmer, um Alina nicht aufzuwecken. Sie schlief seelenruhig im Bett. Zu dritt würden wir da nicht reinpassen. So viel stand fest.

Schnell richtete ich mich im Bad - zumindest mit den Utensilien, die ich mithatte und die hier rumstanden. Als ich ins Zimmer zurückkam, sah ich, dass Elias sich bereits auf dem Sofa eingerichtet hatte. Es war keine Frage für mich, mich ebenfalls dazuzuquetschen. Ich wollte einfach in seiner Nähe sein und endlich wieder in seinen Armen einschlafen. Das hatte ich so vermisst. Es war zwar sehr eng, aber das war uns beiden egal. Wir waren hundemüde und es dauerte nicht lange, da versank ich ins Land der Träume.

...

„Vanessa! Steh endlich auf!", brummte Alina zum mittlerweile zehnten Mal. Sie klang schon sehr genervt. „Unsere Eltern wollen langsam heimfahren!", redete sie weiter auf mich ein. Nachdem ich immer noch nicht reagierte, startete sie einen weiteren Versuch: „Elias ist schon längst im Training." Bei diesen Worten zuckte ich das erste Mal zusammen. Elias war im Training? Ja... erst jetzt fiel mir auf, dass mich keine festen und starken Arme umgriffen. Ich war alleine. Widerwillig öffnete ich die Augen und wurde erstmal vom grellen Tageslicht geblendet. Ich grummelte unverständliches Zeug vor mich hin. Nach einer Weile hatten sich meine Augen an das Licht gewöhnt. Langsam erkannte ich die Gestalt von Alina. Sie saß ungeduldig auf dem Bett. „Wir müssen echt los", sagte sie erneut. „Lass mich doch erstmal wach werden", entgegnete ich verkatert. Jetzt ging es mir so schlecht wie Alina gestern. Eigentlich dachte ich, ich hätte gar nicht so viel getrunken. Da hatte ich mich wohl geirrt.

Ich quälte mich auf und ging ins Bad. Kopfweh plagte mich, aber zum Glück war mir nicht schlecht. In meiner Handtasche schaute ich gleich nach einer Aspirin. Die hatte ich vorsorglich immer dabei. Nachdem ich eine ganze Flasche Wasser geext hatte, ging es mir schon besser. „Wo sind Mama und Papa denn?", fragte ich meine kleine Schwester. „Kurven irgendwo im Berlin rum und vertreiben sich die Zeit", meinte sie. „Ist Theo bei ihnen?" „Ja." Ich kontrollierte, ob in meiner Handtasche alles war, was ich mitgebracht hatte, danach deutete ich Alina an, dass wir loskonnten. Sofort rief sie unsere Eltern an, die versprachen, in einer halben Stunde mit dem Auto hier zu sein. Da draußen die Sonne schien, entschieden wir uns dazu, vor dem Hotel zu warten.

„Geht's dir eigentlich besser?", wollte ich wissen. „Ja, ich habe glaub 14 Stunden am Stück geschlafen", lachte Alina, „Danke, dass du mich zu Elias gebracht hast." „Kein Thema. War die Feier wenigstens gut? Ich meine, es muss sich ja lohnen, einen Kater zu haben." Meine Schwester schmunzelte: „Ja, es hat sich gelohnt." „Hört sich für mich fast so an, als wäre da ein Typ im Spiel gewesen", vermutete ich grinsend. „Möglicherweise hast du ja recht. Hat sich dein Kater heute denn gelohnt?" Ich nickte. Es war ein schöner Abend gewesen. Keine Frage. „Irgendwas verschweigst du mir doch", sagte Alina skeptisch. Genervt rollte ich mit den Augen und gestand: „Ich habe Scheiße gebaut!" „Das klingt gar nicht gut." „Ich werde es nicht geradebiegen können. So viel steht fest", murmelte ich. „Gestern?" „Nein", sagte ich gleich, „In Kiel. Ich will auch nicht drüber sprechen. Weiß selbst noch nicht ganz, wie ich mit der Situation umgehen soll." „Du kannst mit mir reden. Ich sage auch nichts weiter", versprach meine Schwester. „Wenn ich es dir sage, dann muss ich dir aber auch zu 100, nein 1000 Prozent, vertrauen können", deutete ich an. „Welchen Grund soll ich denn haben, es jemanden zu erzählen?", fragte sie daraufhin. „Weil du die Person magst, um die es geht." „Reden wir eigentlich von Elias?" „Natürlich", löste ich auf, „Ich habe wirklich Mist gebaut." „Ich werde nichts sagen. Ich verspreche es dir", meinte Alina. „Na gut", willigte ich ein, „Vor ein paar Wochen..."

Gerade als ich anfangen wollte zu erzählen, hupte es und mein Auto fuhr vor. Unsere Eltern und Theo waren da. Zunächst war es mir nicht unrecht, dass Alina erstmal nichts von meiner Fremdgehaktion erfahren hatte, etwas später wünschte ich mir jedoch schon, es wäre anders. Ich musste einfach mit jemandem darüber sprechen. In mir hatten sich so viele Fragen angestaut, ich hielt es nicht mehr aus. Lange Zeit hatte ich versucht, es mit mir selbst auszumachen, doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich Hilfe benötigte. Alleine kam ich nicht mehr weiter. Irgendjemanden brauchte ich zum Reden. Jemand, dem ich blind vertrauen konnte.

Sweet LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt