Kapitel 1 - Böse Überraschung

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Allyson

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Mein Blick war nahezu an die silberne Wanduhr geheftet. Aber egal, wie lange ich den Sekundenzeiger verfolgte, es schien bereits seit einer Ewigkeit 16:34 Uhr zu sein. Das Ticken hatte sich schon so sehr in mein Gedächtnis gebrannt, dass ich nichts Anderes hörte.

Mehrmals wippte ich mit dem Fuß, strich meine blonden Haare zu Recht und zupfte am Vorhang der Umkleide herum. Langsam wurde ich ungeduldig. Zugegeben, das tat ich häufiger.

»Meg, beeil dich!«, forderte ich meine beste Freundin auf, die sich auf der anderen Seite des Vorhangs befand und Klamotten anprobierte.

Ich wusste nicht, was genau sie da alles hereingenommen hatte, aber der Zeit nach zu urteilen, musste es eine ganze Kleiderstange sein.

»Nur noch zwei Minuten! Versprochen!«, ertönte ihre helle Stimme.

Ich seufzte auf. Zwei Minuten waren bei Meggie mindestens zwanzig. Solange hatte ich aber nicht Zeit. Um Fünf musste ich wieder zu Hause sein. Ich hatte es meiner Mutter fest versprochen.

Nach vielen Wochen der Anstrengung hatte sie endlich wieder etwas Zeit für mich. Sonst war sie praktisch 24 Stunden mit ihrem Unternehmen beschäftigt. Als eine der leitenden Führungskräfte des bekannten Modelabels Oh&Hi war ihr Terminplaner rappelvoll. Besonders meinen kleinen Bruder Max bedrückte das. Andere Kinder sahen ihre Mutter beim Frühstück oder spätestens beim Abendessen. Bei uns war das anders. Wenn Mom nach Hause kam, war Max schon längst im Bett. Ich war meistens noch wach, aber besonders viel brachte mir das nicht. Denn dann war es fast ein Uhr morgens und meine Mutter konnte vor Müdigkeit kaum ihre Augen offen halten. Da freute es mich umso mehr, dass sie sich diesen Abend extra für uns freigenommen hatte.

»Fertig!«, rief Meggie plötzlich und riss mit einem Ruck den Vorhang weg.

»Na, wurde auch mal Zeit!«, ich konnte meine Erleichterung nicht verbergen.

Die Brünette machte eine wegwerfende Handbewegung. »Solange hat das nun auch nicht wieder gedauert!«, verteidigte sie sich und strich sich mit einem Lächeln die langen Wellen hinter die Ohren. Meggie war mit ihren kastanienbraunen Augen und den vollen Lippen eine Naturschönheit. Wenn sie wollte, könnte sie jeden haben. Sie war hübsch, liebenswert und einer der optimistischsten Menschen, die ich kannte.

Ein letztes Mal zupfte sie das grüne Kleid zu Recht, dann drehte sich einmal um ihre eigene Achse. »Und wie findest du es?«

Das Kleid lag eng an und betonte ihre weibliche Figur. Zusätzlich zu den filigranen Verzierungen am Dekolletee besaß es einen schönen Rückenausschnitt und schmeichelte ihren natürlichen Rundungen. Manchmal beneidete ich Meggie. Ich war im Gegensatz zu ihr so schlank, dass die Kurven ausblieben. Und das an jeglichen Bereichen meines Körpers.

Dennoch strahlte ich über beide Ohren. »Es ist traumhaft.«

Meggie lächelte mich frech an. »Ich weiß.«

»Guten Tag, Allyson«, begrüßte mich die Ladenbesitzerin Laurelle wenige Minuten später. Ich war ihr schon lange kein fremdes Gesicht mehr. In letzter Zeit waren Meggie und ich nämlich ein wenig zu oft shoppen gewesen. Es war eine Sucht, die nicht zu stoppen war.

Lächelnd nickte ich ihr zu und legte das knielange Kleid auf das Band. Ein satter Bordeauxton umspielte den Stoff aus Seide, der bis zur Taille eng anlag. Anders als Meggies Kleid besaß es keinen Rückenausschnitt. Ich trug nämlich nur ungern Kleidung, in der mein Rücken zu sehen war.

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