Kapitel 79 - Noch nicht bereit

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Mein Vater ging auf die Tür zu und schloss sie wieder auf. »Ich erwarte gar nicht, dass du mir jetzt sofort verzeihst...«, sein Unterkiefer zitterte, »...ich hoffe aber irgendwann. Ich liebe dich und Max wirklich.«

Er blinzelte mehrmals.

Mein Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigen Bewegungen. Ich konnte nicht. Ich konnte ihm einfach nicht verzeihen. Er hatte mich zerstört.

Meggie legte beruhigend ihre Hand auf meinem Rücken. Ich starrte sie aufgelöst an. Sie zitterte leicht und ihre Augen waren rot unterlaufen. »Komm«, flüsterte sie kaum hörbar und half mir auf.

Mit wackeligen Beinen ging ich mit ihr aus dem Zimmer, ohne meinen Vater auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Weit kam ich aber nicht. Der plötzliche Schwindel, die Erinnerungen und die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Bevor wir das Hotel verlassen konnten, stürzte ich erneut zu Boden. Meggies Worte und die der Frau von der Rezeption drangen nur noch halb zu mir hindurch.

Zusammengekauert ließ ich die brennenden Tränen über mein Gesicht laufen. Meine Lunge stand in Flammen, mir fiel das Atmen schwer.

»Hör auf!«, schrie eine Stimme in meinem Kopf und ließ mich verrückt werden.

»Bitte!«, weinte sie, »Dad! Hör auf!«

»Ally, bitte hör auf zu weinen!« Meggie war aufgelöst und wusste nicht, was sie tun sollte. Unbeholfen strich sie mir die Haare aus dem Gesicht. Ihre Finger zitterten. Dann zog sie mich in eine Umarmung.

Ich spürte, wie ihr Herz genauso schnell raste wie meins. Es tat mir leid, dass sie das alles so erfahren musste. All die Jahre hatte ich ihr das mit meinem Vater verschwiegen und heute hatte sie alles auf einen Schlag mitbekommen.

Schluckend schloss ich die Augen und vergrub mein feuchtes Gesicht in ihrer Jacke. Ich fühlte mich grausam.

* * *

»Warum hast du nie etwas gesagt?«, nur gedämpft drang die Stimme meiner besten Freundin zu mir hindurch.

»Es tat einfach viel zu sehr weh...«, flüsterte ich. In meinem Kopf drehten sich die Bilder der letzten Stunde. Das Hotelzimmer. Meggies Tränen. Eric.

Nachdem ich beinahe wieder eine Panikattacke erlitten hatte, hatte Meggie mich nach Hause gebracht. Onkel Harry war nicht da. Er musste nicht mitansehen, wie ich litt.

Schmerzhaft musste ich feststellen, dass mein Vater Meggie bereits vor meiner Ankunft alles erzählt hatte. Er hatte sie mit der Wahrheit zu Tode erschrocken. Sie mit Worten verletzt. Mit der furchtbaren Vergangenheit.

Meggie strich mir meine Haare aus dem Gesicht. Ihre grünen Augen leuchteten auf. Ihr brannte etwas auf der Seele. Das merkte ich sofort.

»Meinst du nicht, ihm zu verzeihen, wäre der richtige Weg, um damit abzuschließen?«, fragte sie plötzlich.

Ich drehte den Kopf weg. Sie kannte noch nicht die ganze Geschichte. Sie wusste, dass Eric meine Mutter und mich verletzt hatte. Aber das wirklich grausame Ereignis fehlte noch - der Grund, warum er ganze vier Jahre hinter Gittern verbringen musste. Ich konnte es ihr jedoch nicht erzählen. Ich war noch nicht bereit, um mit jemand anderen, als Mom darüber zu sprechen.

Ich presste die Lippen aufeinander, als ich spürte, dass die Tränen wieder hochkamen.

Meggie strich mir sanft über den Rücken. »Es tut mir so leid«, wisperte sie.

Die Nacht war ein einziger Albtraum. Ich konnte kaum ein Auge zulegen und zitterte am ganzen Leib, obwohl die Heizung aufgedreht war.

Um drei Uhr morgens gab ich es auf und schlürfte mit wackeligen Beinen ins Badezimmer.

Ich schaute in den Spiegel und erschrack beim Anblick meiner kläglichen Erscheinung. Ich hatte so viele Tränen vergossen, dass meine Augen rot unterlaufen waren. Die blauen Äderchen stachen hervor und ließen mich krank erscheinen. So fühlte ich mich auch. Nein, sogar viel schlimmer.

Unruhig bewegte ich mich wieder in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Ich wollte nicht daran denken, aber die Erinnerungen kamen immer wieder hoch. Schreie. Blut. Eine dunkelrote Pfütze.

Leise weinte ich mich in den Schlaf. Einen Schlaf, der vollkommen von Albträumen heimgesucht war und mir keine Ruhe ließ.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mein ganzes Kissen durchnässt. Erschöpft lehnte ich mich aus dem Fenster und ließ den Regen auf mein Gesicht rießeln.

»Allyson?«, hörte ich meinen Onkel fragen. Er stand in der Tür und als er mein grausames Aussehen bemerkte, wandelte sich sein Gesichtsaudruck. »Allyson!«, stöhnte er, »Was ist passiert?«

Ich lachte verbittert auf und spürte, wie mir gleichzeitig erneut die Tränen in die Augen traten. »Eric...«, flüsterte ich heiser. Meine Stimme war verschwunden, sie war nichts als ein Hauchen.

Onkel Harrys Augen leuchteten auf. Sofort nahm er mich in den Arm. Doch das brachte mich nur noch mehr zum Weinen. Denn je länger mich mein Onkel festhielt, desto größer wurde der Wunsch, ihn als Vater zu haben. Desto heftiger wurden die Schmerzen, die mich innerlich auffraßen und quälten.

* * *

»Sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Jayden und sah mich eindringlich an.

Ich nickte abwesend und starrte weiter an die Tafel.

Mr. Miller schrieb etwas an, aber ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Meine Gedanken kreisten nur noch um meinen Vater. Gestern war ich zu Hause geblieben und hatte mich den kompletten Tag ausgeweint. Für heute war keine einzige Träne mehr übriggeblieben.

»Ally...«, flüsterte Jayden, »...du kannst mir doch nicht sagen, dass du nur eine Erkältung hast. Da ist doch etwas Anderes, das dich plagt!« Seine grünen Augen funkelten besorgt auf.

Mr. Miller sah Jayden streng an. »Noch ein Wort!«, drohte er, »Und ich schmeiße Sie aus dem Unterricht. Verstanden, Mr. Anderson?«

Jayden nickte und wandte unzufrieden den Blick ab.

Ich zog den Schal um meinen Hals fester. Tatsächlich hatte ich mir etwas eingefangen. Mein Hals schmerzte unglaublich und meine Stimme war so gut wie verschwunden, was ich im Anbetracht der Umstände gar nicht so schlecht fand. So könnte ich zumindest heute Gesprächen aus dem Weg gehen. Ich hatte nämlich keine Kraft mehr, um mit irgendwem über irgendwas zu sprechen.

Es klingelte zum Unterrichtsschluss. Ich packte meine Sachen ein. Während alle Schüler einschließlich Lehrer aus der Klasse stürmten, stellte sich Jayden vor meinen Tisch. Ich sah zu ihm auf. Seine Miene war nach wie vor besorgt. »Jetzt sag mir endlich, was los ist. Hat er wieder zugeschlagen?«, seine Stimme wurde leiser.

Ich schüttelte den Kopf. Selbst das wäre mir lieber gewesen, so sehr hasste ich meinen Vater.

Jayden verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust.

Ich wandte den Blick ab. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen.

Er gab sich damit jedoch nicht zufrieden und ging neben mir in die Hocke. »Allyson, sag mir bitte, was los ist«, seufzte er, »Ich möchte dir doch nur helfen.«

Ich erhob mich von meinem Platz. »Niemand kann mir helfen«, krächzte ich verbittert. Mein Hals brannte. Ich fühlte mich so, als hätte jemand meine Lunge in Brand gesteckt.

»Wer hat dich so verletzt, dass du nicht darüber reden willst?«, fragte Jayden, kopfschüttelnd.

Ganz einfach: Mein Vater.

Ich presste die Lippen aufeinander, als meine Augen wieder anfingen zu brennen. Ich wollte doch nicht weinen.

Hastig drehte ich mich wieder zu Jayden und umarmte ihn, um meine Tränen zu verbergen. Er erwiderte meine Umarmung und strich mir sanft über den Rücken.

Eine Weile sagte er nichts, dann brach er das Schweigen. »Wir gehen jetzt mit Meggie einen Kaffee trinken und entspannen, ja?«, wisperte er, »Dann kannst du all deine Sorgen vergessen.«

Ich nickte vorsichtig und legte meinen Kopf auf Jaydens Schulter ab. Es tat so gut, Freunde um sich zu haben, die sich um einen kümmerten. Ihre Anwesenheit konnte zumindest zu einem kleinen Teil meiner Schmerzen lindern.

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