Kapitel 81 - Spurlos verschwunden

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»Ihm ist nichts passiert...«, flüsterte mein Onkel immer wieder, »...ihm ist nichts passiert!« Er wiederholte diese Worte bereits seit einer geschlagenen Stunde, die wir hier in der Polizeistation verbracht hatten. Ich wusste es leider besser. Aufgelöst starrte ich aus dem Fenster. Max war irgendwo da draußen. Mit meinem Verfolger.

Ich presste die Lippen aufeinander. Ich wusste nicht, wer er war, wieso er das tat geschweige denn was er vorhatte. Ich konnte rein gar nichts tun. Max wurde entführt und ich war machtlos.

Onkel Harry hätte ihn keine Sekunde alleine lassen dürfen - nein, ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen! Alles war meine Schuld.

Er war doch erst sechs Jahre alt. Noch so jung. Wenn ihm etwas passierte, würde mir das Mom niemals verzeihen. Ich könnte mir selbst nicht verzeihen.

Stumm wischte ich mir über das Gesicht und schloss die Augen. Ich hatte versagt. Vollkommen versagt. Ich war die schlechteste Schwester, die man nur haben konnte. In meinem Egoismus und meinen Probleme mit meinem Vater hatte ich den wichtigsten Jungen in meinem Leben vergessen. Und jetzt war es vielleicht zu spät.

»Allyson...«, murmelte mein Onkel.

Ich öffnete die Augen und blickte ihn an. Er sah furchbar aus. Sein aschbraunes Haar stand ihm bis zu allen Bergen. Seine Augen zierten dunkle Schatten. Als hätte er tagelang nicht geschlafen. »Er kommt zurück...«, flüsterte er, »...er wird kommen.« Er belog sich selbst.

Ich nahm seine eiskalte Hand in meine. Ich wollte etwas sagen, um ihn zu trösten, aber ich fand nicht die Worte. Was sollte man sagen, wenn man bereits wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab?

Mein Onkel starrte mich aufgelöst an. In seinen Augen war die pure Verzweiflung abzulesen. Es brach mir das Herz. Er liebte Max wirklich. Als wäre er sein eigener Sohn. Aber jetzt war Max verschwunden. Und das vielleicht für immer.

Wir verbrachten weitere dreißig Minuten auf dem Revier, die sich anfühlten wie eine Unendlichkeit. Mit jeder Minute, die verstrich wurde mich unbehaglicher zu Mute, mit jeder Sekunde machte ich mir nur noch mehr Vorwürfe.

»Wir sollten gehen«, schluchzte Onkel Harry plötzlich und erhob sich von seinem Platz, »Wenn sie ihn... finden, werden sie uns Bescheid geben.« Er gab auf. Ich sah es in seinen Augen. Er wusste, dass Max etwas Grausames zugestoßen war. Nachdem Collin mich fast umgebracht hätte, gab es für ihn keine Hoffnung mehr.

»Nein«, protestierte ich, weil ich es nicht wahrhaben wollte, »Wenn es sein muss, verbringe ich die ganze Nacht hier.«

Stumm schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder hin. »Ich will ja auch, dass sie ihn finden, aber was ist, wenn...«, er stockte. Eine Tränen kullerte seine Wange herunter.

Ich spürte, wie meine Augen wieder anfingen zu brennen.

Ich wollte etwas sagen, aber plötzlich nahm ich laute Schreie wahr. »Lassen Sie mich los!«, brüllte eine mir vertraute Stimme.

Als ich meinen Vater erblickte, der von zwei Polizeibeamten abgeführt wurde, weiteten sich meine Augen.

»Lassen Sie mich los, bitte!«, flehte er wieder, »Ich wollte doch nur meinen Sohn sehen!«

Nadeln aus Eis gruben sich in mein Herz. Ich starrte meinen Vater an. Er hatte Max entführt.

Plötzlich trafen sich unsere Blicke.

»Allyson!«, schrie Eric und versuchte sich aus dem Griff der Beamten zu befreien, die ihn jedoch zurückhielten und mit sich zerrten. Das hielt ihn aber nicht davon ab weiterzuschreien. »Ich wollte Max doch nur ein erstes und letztes Mal sehen! Verzeih mir, Allyson!«

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