Kapitel 18 - Weiße Rosen

7.5K 485 45
                                    

Mein Frust war so groß, dass ich dem Schein nachjagte. Ich kriegte ihn jedoch nicht zu fassen, da der Wind ihn von mir weg trug. Das Wetter trieb sich heute wohl Späße mit mir. Das Geld wehte immer weiter in die Höhe und schien unerreichbar zu sein.

Ich drängte mich wie eine Wahnsinnige an tausend Menschen vorbei. Immer wieder sprang ich in die Luft, stolperte fast über meine eigenen Füße oder warf andere um. Manch einer dachte bestimmt, ich wäre verrückt, weil ich einen verdammten Zwei-Dollar-Schein nachlief, aber ich brauchte dieses Geld.

»Thomas Jefferson, warte!«, flehte ich mein Geld an. Als hätte er meine Frustschreie gehört, schwebte der Schein endlich zu Boden.

Hastig bückte ich mich. Doch jemand hatte in dem Moment wohl dieselbe Idee und so stieß ich mir mit meinem Gegenüber den Kopf.

»Autsch!«, riefen ich wir gleichzeitig. Stöhnend hielt ich mir den schmerzerfüllten Schädel und richtete mich auf, was der Junge vor mir ebenfalls tat. Sofort fielen mir sein roter Haarschopf auf.

Seine blauen Augen sahen mich entschuldigend an. »Es tut mir leid!«, murmelte er mit bedrückter Miene und richtete seine Brille. Mit hängenden Schultern bückte er sich und hob den Geldschein auf, um ihn mir daraufhin in die Hand zu drücken.

Verwirrt nahm ich das Geld an. Seine enttäuschte Miene machte mir aber Schuldgefühle, weshalb ich ihm den Schein wieder hinhielt. »Hier kannst ihn behalten. Du warst eine Millisekunde schneller«, seufzte ich.

Trotz meiner Notlage schenkte ich dem Jungen einfach die zwei Dollar. Ich war einfach viel zu nett. Jayden hätte bei dieser Aussage jetzt sicherlich einen Lachkrampf gekriegt, da er mich manchmal, wenn ich ihn zu fest eine reingehauen hatte, als Schlägerbraut bezeichnete.

Die Miene des Jungen, welcher ungefähr in meinem Alter zu sein schien, erhellte sich. »Danke«, grinste er schüchtern. Erst schien er den Eindruck zu machen, noch etwas sagen zu wollen. Doch dann schloss er den Mund wieder und schenkte mir ein letztes erzwungenes Lächeln, bevor er in der Menge verschwand.

Irgendwie wirkte der arme Junge total verunsichert. Ich könnte meine Seele darauf verwetten, dass er mit seiner dünnen, schlaksigen Figur für die Muskelprotze an seiner Schule leichte Beute war.

Seufzend sah ich auf meine Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Dann wäre der Wochenmarkt beendet, was man jetzt schon merkte, da einige Stände anfingen, die Sachen einzuräumen.

Plötzlich fiel mir wieder dieser unverkennbar gelbe Mantel in der Menschenmenge auf. Melissa?

Die Brünette marschierte erhobenen Hauptes durch die Stadt. Sie war es tatsächlich. Dieses teuflische Gesicht konnte ich mit keinem anderen verwechseln. Was hielt sie denn da in der Hand?

Ich tapste ein paar Schritte in ihre Richtung. Als ich genauer hinschaute, erkannte ich einen Strauß weißer Rosen. Oh, hatte Melissa etwa einen heimlichen Verehrer?

Das musste ich unbedingt genauer wissen. Vielleicht könnte ich irgendetwas herausfinden, um sie das nächste Mal zurückzukontern. Wie ich darauf brannte, sie irgendwie zu demütigen. Ich redete mir ein, dass sie es verdiente. Nach allem, was sie heute zu mir gesagt hatte.

Ich versuchte ihr so unauffällig wie möglich zu folgen. Zu meinem Glück drehte sie sich kein einziges Mal um. Viel mehr schien sie ein klares Ziel zu haben. Sie verließ die Innenstadt und überquerte die Hauptstraße.

Als sie plötzlich durch die Tore des Friedhofs ging, wurde ich stutzig. Hatte sie doch keinen heimlichen Verehrer?

Um bloß nicht aufzufallen, versteckte ich mich hinter einem Müllcontainer.

UnderratedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt