Kapitel 77 - Tränen der Verzweiflung

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Nervös setzte ich mich auf den Stuhl und betrachtete die Glasscheibe vor mir. Trotz des Ungewitters draußen, war es mucksmäuschenstill in der Strafanstalt. Die Ruhe war aber nicht angenehm oder entspannend. Sie ließ meine Finger erzittern.

Ich beobachtete wie die metallene Tür aufgeschlossen wurde. Eine Polizistin kam zum Vorschein. Angespannt krallte ich mich an der Tischplatte fest. Wenige Momente später trat endlich meine Mutter in die Zelle. Bei dem Anblick musste ich mir jedoch die Hand auf den Mund pressen. Meine Mutter sah grausam aus!

Sie war noch blass, fast weiß. Ihre Augen waren rot unterlaufen. Als sie ihren Arm ausstreckte, sah ich nichts als Knochen. Sie aß nichts mehr. Sie war ganz dürr und mager. Mit trostloser Miene setzte sie sich auf den Stuhl vor mir. Ihr Blick war voller Trauer. Verzweiflung.

Unsicher nahm ich den Hörer in die Hand und legte ihn an mein Ohr. »Mom...«, murmelte ich.

Die blauen Augen meiner Mutter blitzten auf. »Allyson...«, ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, »...Wie geht es dir?«

Ich musste lügen. Ich konnte nicht die Wahrheit sagen. »Gut!«, sagte ich knapp und presste die Lippen aufeinander.

Meine Mutter ließ den Kopf sinken. »Du bist eine schlechte Lügnerin...«, wisperte sie in den Hörer.

Ich hielt inne. Einen Moment herrschte absolute Stille.

»Hast du mit dem Anwalt gesprochen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

In den Augen meiner Mutter keimte kurzzeitig ein kleiner Hoffnungsschimmer auf. »Ja...«, antwortete sie, »Wenn alles gut läuft...« Sie hörte auf zu sprechen und sah mich überrascht an.

Ich schluchzte. Ich wollte nicht weinen, aber ich konnte nicht anders. Ich wollte meine Mutter nicht so sehen. Ich spürte, wie die warmen Tränen meine Wangen überströmten.

»Ich kann nicht mehr!«, platzte es aus mir heraus, »Mom! Ich halte es nicht mehr aus!«

Meine Stimme ging in ein Schluchzen über. »J-jeden verdammten Tag muss ich Max sagen, dass du morgen wieder zurück bist! Jeden T-Tag belüge ich ihn! Weißt du, wie mich das verletzt?«

»Allyson!«, flehte meine Mutter, »Hör auf zu weinen! Bitte!«

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht. Ich ließ den Hörer sinken und legte ihn auf die Tischplatte. Dann vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen.

Ich verstand es nicht. Warum sagte Mom nicht einfach, was in der Mordnacht geschehen war? Verdammt nochmal warum nicht? Ich wollte es nicht wahrhaben, aber die einzig logische Erkältung war, dass sie den Mord tatsächlich begangen hatte.

Geknickt verließ ich die Strafanstalt. Nachdem ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen, wurde ich von einem der Polizisten hinausgewiesen und der Besuch wurde abgebrochen. Ich wollte gegenüber Mom eigentlich keine Schwäche zeigen, aber der Schmerz war einfach zu groß. Jetzt hatte ich ihr bestimmt das Herz gebrochen.

Schniefend ging ich in den Park und setzte mich auf eine der Bänke. Ich beobachtete Kinder dabei, wie sie lachend durch die Pfützen sprangen. Unbeschwert und ohne Probleme. Ich stieß einen Seufzer aus. Mein Leben dagegen war ein Schlachtfeld. Verwüstet. Zerstört. Durcheinander.

Ich wollte das alles nicht mehr. Wem auch immer dieser schwarze Van gehörte, ich wünschte der Person alles Schlechte. Wie konnte man nur so grausam sein und einem anderen Menschen den Tod wünschen?

Ich lehnte mich zurück und zog meine Jacke fester an mich. Es war kalt. Eiskalt. Mich würde es nicht wundern, wenn bald der erste Schnee fiel.

Ich saß noch eine ganze Weile auf der Parkbank und dachte über mein grausames Leben nach. Wie jeden Minute eigentlich.

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