Kapitel 97 - Die wahre Geschichte

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»Halt!«, ertönte eine vertraute Stimme.

Überrascht sah ich auf. Onkel Harry!

Er stand ein paar Meter entfernt und hielt zitternd seinen Revolver in den Fingern. Sein Bein blutete noch immer und hatte eine Spur gezogen. Der Anblick jagte mir einen Schauder über den Rücken, weckte gleichzeitig aber auch eine Welle von Erleichterung. Ihm ging es gut. Naja, nicht sonderlich gut, aber so gut, dass er noch laufen konnte. Dass er mich noch beschützen konnte. Ich verfestigte den Griff um Joshs Arm. Niemand musste sterben.

Onkel Harry atmete stöhnend aus. Man sah ihm an, dass es ihm alles andere als leicht gefallen war, hierher zu laufen. Aber da war auch etwas Anderes in seinem Gesicht. Angst, aber auch Hoffnung. Erleichterung, aber dann doch wieder Panik. Eine Mischung aus den verschiedensten Gefühlen, die einen um den Verstand brachten.

»Ich scheine dich wirklich unterschätzt zu haben, Harry«, sagte Klint plötzlich, musterte ihn, aber ließ die Waffe stur auf mich und Josh gerichtet.

»Hör auf Klint! Es hat keinen Sinn!«, brachte mein Onkel stöhnend hervor. Seine Finger spielten unruhig am Abzug herum.

Klints Miene wurde finster. »Für dich hat es vielleicht keinen Sinn, aber für mich! Zwanzig Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Zwanzig verdammte Jahre! Weißt du, wie lang sich jeder Tag angefühlt hat? Wie eine Ewigkeit!«

Augenblicklich klappte mir die Kinnlade herunter.

»Zwanzig Jahre?«, fragte Josh wütend, »Vor zwanzig Jahren ist Allyson nicht mal geboren worden! Was zur Hölle willst du von ihr?«

Ich verstand gar nichts mehr. »Josh hat Recht! Um was geht es hier eigentlich?«, wollte ich mit heiserer Stimme wissen, »Wieso tust du das?«

Klints Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie. Seine grünen Augen leuchteten auf. »Ich will Rose leiden sehen«, sagte er plötzlich, »Ich will, dass deine Mutter unheimliche Schmerzen erfährt! Ich will, dass sie ihre Tochter verliert!«

Ein Ziehen machte sich in meiner Brust breit. Was hatte Mom damit zu tun? »Was meinst du damit?«, fragte ich vorsichtig.

Klint schnaubte verspottend auf. »Allyson, du denkst, du kennst deine Mutter, aber das tust du nicht mal annähernd!«, fauchte er, »Wusstest du, dass deine Mutter wirklich eine Mörderin ist? Wusstest du, dass sie meine Geliebte auf dem Gewissen hat? Wusstest du das? Nein, natürlich wusstest du das nicht!« Seine Worte grenzten an den puren Wahnsinn.

»Lügner!«, schrie ich, »Meine Mutter würde niemals sowas tun!« Sie war keine Mörderin. Mom hatte nichts mit Klint und irgendeiner Töten zu tun. Sie war unschuldig.

Klints Miene wurde finsterer. »Oh, doch!«, schrie er, »Du dachtest, du kennst sie? Da hast du dich aber gewaltig geirrt! Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich und meine Mariett auf den Weg nach Hause waren. Der 15. März 1996. Vor 20 Jahren. Wir waren so glücklich. Frisch verlobt. Sie war wunderschön. Die Liebe meines Lebens. Doch dann war da plötzlich dieses andere Auto, dass die Vorfahrt vollkommen missachtet hat und mit 200 Sachen unterwegs war. Es ist direkt in uns reingerast! Frontal in unseren Wagen. Die Glassplitter. Der Knall. Wir waren die Leid tragenden. Unser Wagen hatte den größten Schaden. Mariett hatte den größten Schaden. Sie war sofort bewusstlos. Aber sie hätte es womöglich geschafft. Sie hätte es geschafft, wenn deine Mutter und dein Onkel« , erdeutete mit einer energischen Geste auf ihn, »nicht Fahrerflucht begannen hätten! Wenn diese verdammte Frau einfach nur angehalten hätte. Wenn sie nicht abgehauen wären, dann würde Mariett heute noch leben. Dann wäre sie nicht noch am Unfallort gestorben!«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Stattdessen wanderte mein Blick zu Onkel Harry, dessen Augen voller Reuegefühle waren.

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