Kapitel 61 - Geisterbahn

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Der Druck an meinen Mund verstärkte sich. Er presste mich gegen die Wand. Der grobe Putz stachelte sich in meinen Rücken. Vor Schmerz kniff ich die Augen zusammen.

»Sei leise!«, zischte er.

Mir kam der Klang der Stimme bekannt vor. Überrascht schlug ich die Augenlider auf und starrte in Joshs dunklen Augen.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Noch nie war ich so glücklich, ihn zu sehen.

Ich war nicht mehr allein.

Vorsichtig nahm er seine Hand von meinem Mund. Er trug immer noch seinen schwarzen Smoking. Seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Er schien durcheinander, aber auch besorgt.

»Dreh dich um«, forderte er mich auf.

Zitternd wandte ich mich um, damit er das Seil lösen konnte. Nach mehreren Versuchen rutschte es mir endlich von den Händen.

Meine Arme knackten, als ich wieder in der Lage war, sie zu bewegen. Die Anspannung verringerte sich, aber dafür wuchsen die Schmerzen. Die Angst, dass der Sensenmann mit seiner scharfen Klinke mir erneut Schmerzen zufügen konnte, ließ mich erschaudern.

Josh nahm meine Hand. »Keine Sorge, du bist jetzt in Sicherheit«, flüsterte er und spähte einmal um die Ecke.

Ich nickte vorsichtig.

Ich wollte mich bei ihm bedanken, aber mein Hals war ganz trocken. Ich fühlte mich schlecht dafür, dass ich Josh die ganze Zeit für den Bösen gehalten hatte. Doch er hatte nie etwas mit meinem Verfolger zu tun gehabt. Meine Erinnerungen waren nun vollständig zurück. Ich wusste alles.

In der Partynacht, als ich von meinem Verfolger angegriffen wurde, war ich zum ersten Mal in seinem Haus aufgewacht. Die ganze Zeit hatte angenommen, dass ich in meinem Bett zum ersten Mal wach geworden war. Aber das stimmte nicht.

Josh hatte in jener Nacht meinen Verfolger in die Flucht geschlagen und mich dann in seinem Haus verarztet. Deshalb wusste er auch von meinen Narben. Er hatte sie gesehen.

Deshalb lag sein Handy in meiner Jackentasche. Darum hatte ich eines seiner Shirts getragen.

Die Lüge, die er mir erzählt hatte, war meine eigene. Ich konnte mich wieder an alles erinnern. Ich selbst hatte ihn gebeten, mir niemals zu sagen, dass ich angegriffen wurde, wenn ich es jemals vergessen sollte.

Ich vergas es und er hatte mir wie versprochen eine Lüge erzählt.

Nur weil ich nicht wahrhaben konnte, was geschehen war, hatte ich mich nur in noch viel größere Schwierigkeiten gebracht. Noch dazu hatte ich die falschen Menschen beschuldigt. Josh war nicht böse. Er hatte mir geholfen, sich um mich gekümmert und mir genau das erzählt, was ich hören wollte.

Er hatte braunes Haar, fiel mir ein, als Josh meine Hand fester drückte. Mein Verfolger hatte braunes Haar. Erst hatte ich ihn für Josh gehalten, aber jetzt wusste ich es besser.

Mit zitternden Knien starrte in den Nachthimmel und versuchte keinen Ton von mir zu geben. In mir wütete ein ganzer Sturm. Meine Gedanken hüpften von einer Sache zur nächsten. Jayden hatte mich eiskalt belogen. Er hatte mir verschwiegen, was wirklich geschehen war.

Die Szene spielte sich immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Ich war sturzbetrunken, er hatte mich gegen meinen Willen geküsst. Mein Verfolger hatte ihn zu Boden geschlagen, um an mich zu kommen. Jayden hätte mir sagen können, wie er aussah. Er hätte mir beschreiben können, welche Statur der Unbekannte hatte. Aber stattdessen hatte er mich belogen und mein Vertrauen schamlos ausgenutzt.

Ich zitterte vor Wut, Nervosität und Angst. Meine Gefühle ließen mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Schmerzen an meinem Arm machten es nur schlimmer. Das war zu viel für mich. Ich wusste nicht einmal, warum ausgerechnet ich ins Visier genommen wurde. Was hatte ich getan, dass ich so bestraft wurde?

Ich starrte zu Josh, der noch immer um die Ecke lugte. Seine Miene war mehr als angespannt, was ich an der Ader an seiner Stirn erkennen konnte, die sich deutlich hervorhob. Er hielt immer noch meine Hand. Zum ersten Mal verspürte ich bei seinen Berührungen keine eisige Kälte, sondern Wärme. Plötzlich wirkte er nicht mehr bedrohlich. Ich fühlte mich in seiner Nähe sicher.

Ich wollte wissen, wie er mich gefunden hatte oder warum er hier war, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. Mein Hals brannte ungeheuerlich.

»Schnell«, flüsterte Josh plötzlich, »Die Luft ist rein.« Sofort zog er mich hinter sich her.

Panisch lief ich mit und drückte seine Hand, so fest ich konnte. Ich wollte nicht, dass er mich allein ließ.

Wir liefen direkt auf seinen Wagen zu, den er am Ende des Geländers geparkt hatte. Kurz machte sich Erleichterung in mir breit.

Doch dann nahm ich auf einmal laute Schritte war, die sich uns näherten.

Ich wagte einen Blick nach hinten und erschauderte.

Der Sensenmann.

Er lief uns direkt hinterher. In seiner Hand hielt er noch immer die Sense, die im Mondlicht gespenstisch aufblitzte.

»Er ist da!«, brachte ich mit angstverzerrten Gesicht hervor und machte hektische Bewegungen.

»Steig in den Wagen«, keuchte Josh und ließ meine Hand los. Für einen Moment fühlte ich mich wieder verloren.

Während er auf die Fahrerseite lief, sprintete ich auf die Beifahrertür zu. Hastig riss ich sie auf und ließ mich auf den Sitz fallen.

Josh saß bereits am Lenkrad und startete den Motor. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Ehe ich die Tür schließen konnte, riss ich vor lauter Entsetzen die Augen auf und beobachtete meinen Verfolger dabei, wie er mit seiner Sense ausholte.

Genau in dem Moment trat Josh aufs Gaspedal und das Auto fuhr von Ort und Stelle. Ganz knapp verfehlte das scharfe Metall mich und hinterließ stattdessen mit einem lauten Quietschen einen Kratzer am Wagenheck. Das Geräusch ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen.

»Es ist noch nicht vorbei!«, schrie der Sensenmann. Der Wind heulte auf schlug die Autotür zu.

Ich schnallte mich an und presste mich in den Sitz. Mein Herz schlug immer heftiger gegen meine Rippen.

Josh fing an zu beschleunigen und raste die finstere Landstraße entlang.

Es ist noch nicht vorbei...

Die Worte meines Verfolgers brannten sich in meinen Schädel und ließen mich frösteln. Ich kauerte mich auf meinem Sitz zusammen und versuchte mich zu beruhigen. Ich war davongekommen. Vorerst.

Ich konnte nicht fassen, dass dieser Mann im Kostüm mich tatsächlich fast umgebracht hätte. Die Schmerzen von der Sense brannten sich immer noch in mein Fleisch. Ich hatte so viel Blut verloren, selbst jetzt erfüllte den Wagen nur der Geruch meines Blutes. Meine Knie waren aufgeschürft, mein ganzer Körper mit blauen Flecken und Dreck übersät.

Ich wandte den Kopf Richtung Fenster. Obwohl ich jetzt in Sicherheit war, konnte ich mir meine Tränen nicht unterdrücken. Sie kamen plötzlich und überströmten mein Gesicht. Ich schluchzte mehrmals.

Mein Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen. Diese Nacht war grausamer gewesen als alle meiner schlimmsten Albträume zusammen. Ich würde sie niemals vergessen können.

Die schaurige Gestalt des Todes. Seine messerscharfe Sense. Seine angsteinflößende Maske. Seine dunklen Augen. Alles würde mich für den Rest meines Lebens ins Schaudern versetzen. Ich wimmerte.

Plötzlich spürte ich, wie Josh seine Hand auf mein Bein legte. Mit tränenüberströmten Gesicht sah ich ihn an. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet. Mit der anderen Hand hielt er das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

Schluchzend strich ich mir über das Gesicht und umklammerte dann seine Hand, die immer noch auf meinem Bein ruhte.

Ich fragte mich, wie Josh mich gefunden hatte. Woher er wusste, dass ich ihn Schwierigkeiten steckte?

Ich wollte es wissen, aber meiner Kehle entwich erneut ein Schluchzer. Meine Augen füllten sich mit brennenden Tränen.

Verzweifelt ließ ich Joshs Hand wieder los und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.

Ich konnte nicht mehr.

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