Kapitel 62 - Ein Fass voller Tränen

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Nach zehn Minuten waren wir in der Riverstreet angekommen. Josh hielt den Wagen und zog die Handbremse an. Schluckend wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn an. Er schien nachzudenken. »Zur Polizei gehen bringt nichts«, murmelte er vor sich hin, »Wir wissen nicht, wer der Typ ist.«

Mein Magen verkrampfte sich. Zur Polizei durfte ich auf keinen Fall. Mein Verfolger würde alles tun, um dies zu verhindern oder zur falschen Entscheidung zu machen. Er hatte keine Hemmungen den Leuten, die mir etwas bedeuteten, dafür etwas anzutun.

Ich schloss die Augen und strich mir über das feuchte Gesicht. Ich wollte nicht nach Hause. Mein Verfolger wusste, wo ich wohnte. Ich wollte an einen sicheren Ort. In eine andere Stadt. In ein anderes Land. In einen anderen Staat. Ich hielt es hier in Brulestown nicht mehr aus.

Ich hörte, wie Josh aus dem Wagen stieg. Mit einem Knall schloss er seine Tür. Ich war so schreckhaft, dass ich selbst deshalb zusammenzuckte.

Josh öffnete die Beifahrertür. Der kalte Herbstwind jagte mir einen eiskalten Schauder über den Rücken. »Komm«, flüsterte er und hielt mir seine Hand hin.

Aufgelöst starrte ich ihn an. Ich wollte mich nicht bewegen. Jede Faser meines Körpers schmerzte. Mein Arm blutete, meine Beine waren voller Schrammen und blauer Flecken. Ich fühlte mich wie eine Marionette, die der Sensenmann fast den Kopf abgehackt hätte.

Josh beugte sich zu mir vor und legte seine Hände unter meine Kniekehlen und an meinen Rücken. Als er mich hoch trug, entwich mir ein schmerzerfüllter Seufzer. Sofort ich die Augen zusammen und versuchte mir weitere Tränen zu unterdrücken. Eine Träne stahl sich jedoch trotzdem aus meinem Augenwinkel.

Mit zitternder Hand wischte ich sie weg und sah zu Josh auf, der sich in Bewegung setzte. »W-wohin gehen... wir?«, fragte ich mit heiserer Stimme.

Kurz blieb Josh stehen. »An einen sicheren Ort...«, wisperte in die dunkle Nacht hinein.

Er ging auf sein Haus zu. Die Vorstellung wieder zu ihm nach Hause zu gehen, war merkwürdig. Noch vorgestern hatte er mich beim Herumschnüffel erwischt und fast die Fassung verloren. Aber zu Onkel Harry konnte ich nicht. Der würde sofort merken, dass etwas nicht stimmte und die Polizei rufen.

Josh ließ mich herunter, um die Haustür zu öffnen. Sofort hielt ich mich an der Wand fest und versuchte alle Gedanken an meinen Verfolger auszublenden. Mein Puls war immer noch unnormal hoch. Mir war kalt und heiß zugleich. In meinem Magen befand sich ein riesiger Knoten. Es fehlte nicht mehr viel und ich müsste mich übergeben.

Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und schloss für einen Moment die Augenlider. Ich fühlte mich grausam.

* * *

Ich verzog das Gesicht und kniff die Augen fest zusammen, um mir weitere Tränen zu unterdrücken. Ich spürte, wie Josh den Verband mehrere Male um meinen linken Arm wickelte.

Hätte sich die scharfe Schneide der Sense noch ein wenig tiefer in meine Haut geschnitten, müsste sich das Ganze ein richtiger Arzt anschauen. Ich war froh, dass dies nicht der Fall war. Im Krankenhaus würde man nämlich sofort wissen wollen, wie es zu dieser Wunde kam. Und das würde mich dann unweigerlich zur Polizei führen, was ich auf jeden Fall verhindern musste.

Ich hielt vor lauter Anspannung den Atem an und versuchte das schmerzhafte Ziehen krampfhaft zu unterdrücken. »So...«, sagte Josh einige Momente später.

Ich schlug die Augenlider auf und betrachtete den Verband, der meinen kompletten linken Oberarm einnahm. Bei dem Anblick schossen die Bilder aus dem Keller wieder in meinen Kopf. Der Sensenmann. Das scharfe Messerblatt, das sich in meine Haut geschnitten hatte. Der Sturz von der Treppe. Ich schluckte. Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein?

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