Teil 20 - Neue Attraktion

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Ich war nervös, als ich dieses Mal das Krankenhaus betrat. Trotz meiner Vorbereitung war ich gespannt, wie es heute werden würde. Dazu kam, dass Schwester Lucy heute nicht da sein würde.
„Mary!", rief Lilly und kam auf mich zugerannt. Sie umklammerte meine Beine und ließ mich schmunzeln.
„Hallo, Lilly. Wie geht es dir?", fragte ich und hob sie auf meine Arme.
„Gut, meine Mama war heute morgen da."
„Das freut mich für dich. Sind die anderen schon da?", fragte ich. Lilly nickte, befreite sich von meinem Armem und zog mich an der Hand in den Raum, in dem wir das letzte Mal gesessen hatten.
„Mary!", riefen nun auch andere. Ich begrüßte sie alle und setzte mich dann auf den Boden. Nachdem ich die Bücher ausgepackt hatte, ließ ich die Kinder eines auswählen und begann es vorzulesen. Es dauert nicht lange, da wurde mir bewusst, dass die Kinder gar kein Buch brauchten, geschweige denn jemanden, der ihnen etwas erzählte. Sie hatten selber so viel Fantasie, tolle Ideen und den Drang, sie mitzuteilen. Also ließ ich sie. Sie erzählten von Drachen und mutigen Rittern, von denen Lilly ganz begeistert war.
Obwohl ich heute etwas früher gekommen war, war die Lesezeit schnell vorbei. Mit den Kindern verging die Zeit wie im Flug. Während die Schwestern die schwer kranken Kinder zurück auf ihre Zimmer brachten, half Lilly mir beim Aufräumen. Ich stellte die Taschen beiseite und reichte ihr meine Hand. Als wir über den Flur gingen, erzählte sie mir, dass sie bald Geburtstag hatte und dass die Schwestern sicher wieder eine kleine Feier für sie arrangieren würden. Kaum waren wir in ihrem Zimmer angekommen, brachte eine der Schwestern das Mittagessen. Lilly verschlang es eifrig und teilte im Anschluss ihren Pudding mit mir. Während ich mich mit ihr unterhielt und die Zeit genoss, fragte ich mich, wie man nicht gerne Zeit mit diesem kleinen Mädchen verbringen konnte. Sie war herzallerliebst.
Nach dem Essen stellte sie mir ihre vielen Kuscheltiere vor und als sie zu Gähnen begann, deckte ich sie zu und verließ das Zimmer. Ich schloss die Tür hinter mir und erschrak, als ich jemanden anrempelte.
„Oh, entschuldigen Sie.", sagte ich und sah auf. Da erkannte ich die junge Frau und erschrak.
„Gemma?"
„Mary? Was machst du denn hier?", fragte sie überrascht. Sie sah müde aus, was nicht zuletzt an den dunklen Augenringe unter ihren Augen lag.
„Ich, ich arbeite seit kurzem hier. Und du?" Sie sah sich traurig um und noch ehe sie antwortete, kam der kleine Luke angelaufen.
„Mami!", rief er. Sie nahm ihn hoch und da sah ich, dass auch er sehr müde und dünn aussah. Gemma schwieg eine Weile und auch ohne dass sie es aussprach, ahnte ich, was hier vor sich ging.
„Lass uns nach unten ins Café gehen, dann erkläre ich dir alles.", sagte sie. Ich nickte und folgte ihr. Im Café lief Luke sofort zu anderen Kindern, die in einer Ecke mit Spielzeug spielten. Gemma holte uns zwei Tassen Tee und dann setzten wir uns an einen der Tische. Ich wollte sie nicht drängen, also wartete ich, bis sie von selber anfing zu erzählen.
„Es war vor ein paar Monaten, als es Luke eines Abends immer schlechter ging. Er bekam Fieber, hustete schwer und erbrach sich sogar. Nach ein paar Stunden fuhren wir hier her und es wurde eine Reihe an Tests gemacht. Wir haben hier geschlafen und am nächsten morgen bekamen wir die Diagnose. Luke hat eine spezielle Art von Leukämie, die sehr aggressiv, aber in den meisten Fällen heilbar ist. Wir sind grade dabei, die zweite Behandlungsmöglichkeit auszuprobieren. Es sieht gut aus, aber leicht ist es nicht." Gemma sah zu ihrem Sohn, der lächelnd mit den anderen Kindern spielte. Ich nahm ihre Hand und drückte sie.
„Es traf mich wie ein Schlag, doch für Harry war es noch schlimmer. Wir hatten uns grade erst ausgesprochen..."
„Er hat nichts davon erzählt.", sagte ich leise. Gemma lächelte leicht und rührte in ihrem Tee.
„Harry denkt, wenn er es niemandem erzählt und hofft, dass es besser wird, wird es das auch. Er wollte dich sicher nicht damit belasten." Ich nahm einen Schluck von meinem Tee und sah zu Luke. Abgesehen davon, dass er müde und etwas dünn aussah, sah man es ihm nicht an. Er spielte, als würde sein Leben nicht von der Medizin abhängen.
„Er versteht nicht ganz, was diese ganzen Besuche hier bedeuten. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass er krank ist und dass wir nun häufiger her kommen müssen. Ich bin nur froh, dass er nicht stationär behandelt werden muss. Zumindest jetzt noch nicht.", sagte Gemma.
„Es muss schwer für dich sein. Ich arbeite erst seit wenigen Wochen hier, aber selbst mich nimmt es mit, was mit den Kindern passiert. Sie sollten nicht krank und an ihre Krankheit gebunden sein. Sie sollten spielen und leben."
„Was genau machst du hier?", lenkte Gemma ab. Ich ließ es zu, da ich an ihrer Stelle sicher auch nicht über die Krankheit meines Sohnes hätte reden wollen.
„Ich komme ein paar mal die Woche für ein bis zwei Stunden und lese den Kindern etwas vor. Auch wenn es meist eher darin ausartet, dass sie mir etwas erzählen."
„Dann bist du also die neue Attraktion, von der Schwester Lucy letzte Woche sprach.", sagte Gemma und lachte.
„Das bin ich dann wohl."
Gemmas Miene wurde wieder ernst.
„In letzter Zeit ist Harry häufig mit Luke hergekommen, weil ich arbeiten musste. Ich sehe, dass es ihn belastet und ich glaube es wird ihm unheimlich helfen, dass du es jetzt auch weißt.", sagte sie und ergriff meine Hand. Ich lächelte sie aufmunternd an.
„Ich werde mein bestes geben, euch zu unterstützen. Auch wenn ich bezweifle, dass Harry auch nur die kleinste Andeutung von Hilfe annehmen wird.", sagte ich und lachte. Gemma stimmte ein und rief dann nach Luke.
„Wir müssen übermorgen wiederkommen. Bist du da auch hier?"
„Ja, genau wie heute vor dem Mittagessen.", sagte ich. Gemma drückte mich und sagte, dass sie sich der freue, dass ich es nun auch wüsste und dass wir uns übermorgen sehen würden. Dann ging sie und noch während ich den beiden hinterher sah, hörte ich ein schrilles Piepen.

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt