Teil 16 - Schutzengel

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Es war ungefähr halb Zehn, als ich das Haus verließ und eine halbe Stunde später die Kinderstation betrat. Ich hatte den Geruch von Krankenhaus nie gemocht. Zum Glück überwog meine Aufregung alles.
„Hallo, Mary.", begrüßte mich Schwester Lucy.
„Hallo, Schwester Lucy. Wie geht es dir?" Ich legte meine Sachen ab und folgte ihr dann in den Raum, in dem ich die nächsten Stunden verbringen würde.
„Gut, du erleichterst mir meine Arbeit ungemein. Die Kinder sitzen seit über einer halben Stunde und warten." Ich sah sie erstaunt an und lächelte.
„Ich konnte es auch kaum erwarten.", beichtete ich. Lucy öffnete mir die Tür und das Bild, was sich mir nun bot, war unfassbar. Mindestens Zehn der Kleinen saßen in einem Kreis auf dem Teppich; manche mit ihren Geräten, andere mit Kuscheltieren.
„Kinder, das ist Mary.", stellte Schwester Lucy mich vor.
„Hallo, Kinder.", sagte ich. Eines der kleinen Mädchen lief auf mich zu in umklammerte meine Beine. Sie war sicher noch keine fünf Jahre alt. Ich empfand Mitleid, wollte es ihr jedoch nicht zeigen. Das letzte, was diese armen, kranken Kinder brauchten, war Mitleid. Lächelnd streichelte ich ihr über den Rücken und als sie zu mir aufsah, erweichte sie mit ihrem Blick mein Herz. Auf ihrer Brust klebte ein kleines Namensschild, dem ich entnahm, dass sie Lilly hieß.
„Magst du dich zu mir setzen, Lilly?" Das kleine Mädchen nickte, nahm meine Hand und zog mich zu ihrem ausgewählten Platz. Während Lilly in den Büchern blätterte, die sie wahrscheinlich noch nicht lesen konnte, sah ich mir die Namen der Kinder an. Schwester Lucy hatte den Raum bereits wieder verlassen, doch ich fühlte mich nicht alleine gelassen. Die Kinder strahlten eine ungeheure Gelassenheit aus, was mich beruhigte.
In den nächsten Stunden unterhielten wir uns über die Bücher, die ich Ihnen mitgebracht hatte und natürlich über mich. Die Kinder waren sehr neugierig und fragten allerlei persönliches. Doch bei ihnen störte mich das nicht.
„So, Kinder. Das Mittagsessen wird angerichtet und Leo muss zu seiner Untersuchung. Verabschiedet euch also bitte von Mary.", sagte Schwester Lucy und half Leo in seinen Rollstuhl.
„Nein, du darfst nicht gehen!", rief Lilly und klammerte sich an meinen Arm.
„Meine Mami kommt erst heute Abend wieder und bis dahin bin ich ganz alleine." Sie begann zu schmollen und es sah aus, als würde sie gleich weinen. Während die Schwester de restlichen Kinder auf ihre Zimmer verteilte, nahm ich Lilly hoch und zwang sie, mich anzusehen.
„Hör zu. Ich bringe schnell meine Sachen ins Auto und komme dann, wenn du ganz lieb und brav gegessen hast, noch einmal in dein Zimmer. Ok?" Lilly sah mit leuchtenden Augen zu mir auf und nickte. Dann drückte sie mich und als ich sie runterließ, lief sie vorbei an Schwester Lucy in ihr Zimmer.
„Du kannst echt gut mit Kindern.", sagte sie.
„Früher wollte ich immer mit ihnen arbeiten, aber die Literatur hat mich dann doch in ihren Bann gezogen.", sagte ich und lachte.
„Ich kann dir nur ans Herz legen, dich nicht zu sehr auf die Kinder einzulassen. Viele von ihnen verlassen diese Station nicht mehr lebendig." Traurih sah ich die Schwester an und auch, wenn ich es nicht wollte, wusste ich, dass dies traurige Tatsache war.
„Und Lilly? Was hat sie?" Schwester Lucy stellte die Stühle zurück und seufzte.
„Lilly ist eine unserer längsten Patientinnen. Sie ist seit sie zwei ist hier und wird wahrscheinlich auch nicht mehr gehen. Wir haben bereits zahlreiche Behandlungsmethoden ausprobiert, doch keine schlägt an. Der Tumor in ihrem süßen, kleinen Kopf wächst und wächst. Bald wird sie weder sprechen, noch essen, noch irgendetwas tun können. Es bricht uns allen das Herz, doch wir müssen damit leben.", sagte sie traurig. Dann lächelte sie mich an und verließ den Raum. Es war ihr Alltag; ihr Job. Sie musste damit leben können. Doch für mich würde das schwer werden. Sehr schwer.
Ich verließ den Raum und brachte meine Sachen in den Wagen. Dann schnappte ich ein paar Minuten frische Luft, um mich zu sortieren. Für einen Tag war das reichlich viel, was ich zu verdauen hatte.
Als ich wieder auf der Station war, fand ich das Zimmer von Lilly schnell. Ich musste etwas länger als gedacht draußen gewesen sein, denn die Kleine aß nicht mehr, sondern schlief an ihren Teddy gekuschelt. Ich blieb in der Tür stehen und betrachtete sie. Sie sah nicht aus, als wäre sie krank. Sie sah glücklich und gesund aus. Ich kannte sie kaum, aber ich wünschte mir, sie wäre es. So wie alle Kinder auf dieser Station.
„Ihre Mutter kommt heute wieder nicht. Sie sagt, sie erträgt es nicht, Lilly so zu sehen. Sie versteht nicht, wie ihre Tochter sich fühlt. Alleine und einsam. Kommen Sie doch morgen wieder, dann freut sie sich sicher.", sagte eine der anderen Schwestern und lächelte mich an. Ich nickte und machte mich dann langsam auf den Heimweg. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, seine kleine Tochter im Krankenhaus zu sehen und zu wissen, dass sie nie wieder nach Hause kommen würde, doch sie alleine in diesem Zimmer zu lassen, wäre für mich nie eine Option. Bedrückt parkte ich den Audi und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Ich schloss die Haustür auf und rief nach Harry. Als ich grade meine Jacke aufgehängt hatte, kam er in den Flur.
„Da bist du ja. Alles ok?", fragte er. Ich schüttelte den Kopf und drückte mich an ihn. Harry nahm mich in den Arm und streichelte mir beruhigend über den Rücken. Eine Träne rollte über meine Wange; ich wischte sie weg.
„Was ist denn passiert?", fragte er und führte mich zur Couch. Ich nahm ein Taschentuch und putzte mir die Nase,
„Es ist so traurig, die Kinder dort zu sehen. Sie sind so krank und ihre Eltern sind nicht für sie da, das ist grausam." Harry nahm meine Hand und streichelte sie. Ich dachte wieder an Lilly und die anderen kranken Kinder und fasste einen Entschluss.
Wenn ihre Eltern nicht fähig waren, ihnen ihre letzten Wochen auf Erden so schön wie möglich zu gestalten, würde ich es tun. Mit allem, was ich konnte.

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt