Teil 77 - Spenden

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„Mary, warte!", rief Harry, doch ich reagierte nicht darauf. Ich war wie auf der Flucht, als ich den Gang entlang lief. Ich hörte nichts, als meinen rasenden Herzschlag und die Stimme in meinem Kopf, die betete, dass mein Dad noch lebte. Ich griff nach der Türklinke und drückte sie. Als ich an ihr zog, stand plötzlich meine Mutter vor mir. Mit verweinten Augen sah sie mich an und nahm mich dann in den Arm. Sie sprach mir beruhigende Worte ins Ohr, doch das einzige was ich sah, war mein Vater. Wie letztes Mal lag er verbunden mit Schläuchen und Geräten auf dem Bett, als wäre er tot. Während meine Mum Harry begrüßte, ging ich zum Bett und ergriff die Hand meines Vaters. Sie war warm, wenn auch nicht so warm, wie ich sie in Erinnerung hatte.
„Mrs. Hensley." Ich drehte mich um und entdeckte Dr. Robinson. Er legte eine Hand auf meine Schulter und sah mich mitleidig an.
„Wie geht es ihm?", fragte ich. Es fühlte sich komisch an zu sprechen. Mein Hals war trocken und meine Stimme rau. Harry schien dies bemerkt zuhaben, denn er reichte mir eine Flasche Wasser, als der Arzt sich die Werte meines Vaters ansah.
„Wie befürchtet hat sich nichts verändert.", sagte er und legte alles beiseite. Als er sich zu uns drehte hatte er diesen Blick drauf, der einem zeigte, dass etwas sehr Unangenehmes folgen würde.
„Da sich sein Zustand seit zwei Tagen nicht verändert hat, bin ich dazu verpflichtet, mit Ihnen über das weitere Verfahren zu reden. Ihr Mann hat keine Patientenverfügung. Da er ausschließlich von den Geräten am Leben gehalten wird, gibt es einige Dinge, die zu klären wären." Harry hatte seinen Arm um mich gelegt und stützte mich, doch es war meine Mum, die jetzt die Stütze brauchte.
„Wie wäre es, wenn Harry dich nach Hause fährt und ich mir anhöre, was der Doktor zu sagen hat? Später können wir dann alles gemeinsam und in Ruhe durchgehen.", schlug ich vor. Meine Mutter sah mich mit unsicherem aber auch dankbarem Blick an. Schließlich nickte sie. Ich küsste Harry und folgte dem Arzt dann in ein kleines Besprechungszimmer.
„So, Mrs. Hensley. Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein, es sieht nicht gut aus." Ich nickte und senkte den Blick auf meine Hände. Mir war im Vorfeld klar gewesen, was für eine Art von Gespräch das hier werden würde.
„Ihr Vater hat nichts über lebenserhaltende Maßnahmen festgelegt. Es ist so, dass wir diese meist nach einem gewissen Zeitraum ohne Besserung abschalten und den Patienten in Frieden gehen lassen. Dieser Zeitraum beträgt meist 30 Tage. Diese Entscheidung zu treffen ist nicht einfach, weil man das Gefühl hätte, man würde jemanden töten, doch ohne Besserung, gilt diese Person bereits als verstorben. Verstehen sie das?", fragte er. Ich nickte wieder.
Mein Dad und ich hatten nie darüber geredet. Ich hoffte, dass wenigstens meine Mum etwas über seine Wünsche wusste.
„Wie sieht es mit einer Organspende aus?", fragte ich. Dr. Robinson sah mich überrascht an.
„Da Ihr Vater nicht mehr der Jüngste ist und seine Organe nach und nach versagen, gibt es einige Einschränkungen. Wenn sie eine Organspende in Betracht ziehen, müssten wir einige Tests machen und geeignete Organe direkt nach dem Tod entnehmen."
„Wird er wieder aufwachen?", fragte ich. Ich wendete meinen Blick vom Fenster zum Arzt vor mir. Er spielte mit seinen Stift und schien zu überlegen, wie er es mir beibringen sollte.
„Es gibt immer wieder Fälle, bei denen Patienten nach langer Zeit wieder aufwachen.", sagte er.
„Würde er immer noch mein Dad sein?" Der Arzt sah mich an und schüttelte dann den Kopf.
„Sollte er aufwachen, hätte er vermutlich starke Einschränkungen. Durch den Herzinfarkt wurden wichtige Bereiche seiner Gehirns verletzt. Meist beeinträchtigt dies die Sprache oder das Gedächtnis. Also nein, er wäre nicht mehr Ihr Dad.", sagte der Arzt ruhig. Ich atmete tief durch und nickte dann.
„Vielen dank, dass Sie mich darüber aufgeklärt haben."
„Nichts zu danken.", sagte er und stand mit mir auf. Er öffnete die Tür und während ich zurück zu meinem Dad ging, ging er in die umgekehrte Richtung.
„Ich bin noch nicht bereit dich gehen zu lassen.", flüsterte ich und drückte die Hand meines Vaters. Eine Träne lief meine Wange hinunter. Als ich sie wegwischte und aufsah, entdeckte ich Harry in der Tür. In den Händen hielt er zwei Becher mit Kaffee. Ich lächelte und ging zu ihm. Er nahm mich in den Arm und küsste mich auf den Kopf. Mit dem Kaffee setzten wir uns auf die beiden Stühle am Fenster. Meine Beine legte ich über Harrys Schoß.
„Er wird nicht wieder aufwachen.", sagte ich nach wenigen Minuten. Harry sah mich an und ergriff meine Hand.
„Das tut mir leid."
„Ich habe gefragt, ob wir seine Organe spenden können. Das hätte er so gewollt.", sagte ich und sah wieder aus dem Fenster.
„Wie geht es Mum?", fragte ich. Harry stellte seinen leeren Becher beiseite und antwortete dann.
„Sie hat sich erst mal hingelegt. Ich habe ihr gesagt, dass sie mich oder auch dich jederzeit anrufen kann, wenn etwas ist und dass wir sie anrufen, falls sich etwas verändert.", sagte Harry. Ich mühte mir ein dankbares Lächeln ab und küsste Harry. Er zog mich an sich, sodass ich kurz darauf an ihn gekuschelt auf seinen Schoß saß.
„Danke, dass du mit mir hier bist.", flüsterte ich. Harry küsste mich auf den Kopf und drückte mich fester an sich.
„Ist doch selbstverständlich. Du würdest das selbe für mich tun." Ich schloss meine Augen für einen kurzen Augenblick. Die Müdigkeit war plötzlich sehr präsent.
„Komm, ich bringe dich erst mal nach Hause.", sagte Harry, doch ich widersprach.
„Nein, ich lasse ihn nicht alleine.", insistierte ich und setzte mich auf. Harry sah mir tief in die Augen und küsste mich fest.
„Ich liebe dich so sehr.", sagte er und lehnte seine Stirn an meine.
„Ich liebe dich auch.", erwiderte ich. Das Knurren meines Magens unterbrach diesen intimen Moment. Wir beide begannen zu lachen.
„Könntest du etwas zu Essen besorgen?", fragte ich noch immer lächelnd.
„Natürlich, Babe."

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt