Teil 76 - Halt

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Es gibt Momente und Situationen, in denen man so reagiert, dass man es am Ende bereut. Wenn man zu schnell urteilt, Dinge sagt, die man nicht sagen wollte oder wenn man im Nachhinein eine angemessenere Lösung findet.
In der Regel kam ich relativ selten in solche Situationen. Manchmal reagierte ich impulsiv, doch innerlich hielt mich etwas davon ab, zu weit zu gehen. Heute war das nicht der Fall gewesen. Nichts hatte mich zurück gehalten und doch saß ich nun nicht hier und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte.
Wieder mal machte ich mir ausschließlich Gedanken darüber, was wohl in Harry vorgegangen war. Eigentlich hatte ich gedacht, wir wären über diesen Punkt schon eine Weile hinaus, doch da hatte ich mich wohl getäuscht.
Nachdenklich saß ich auf der kleinen Couch in meinem Arbeitszimmer und starrte die Wand an. Ich wusste, dass Harry es nicht so gemeint hatte. Er wollte sicher keine Pause. Was würde das auch bringen? Weder er, noch ich würden und ändern. Was helfen würde, wäre eventuell ein klärendes Gespräch. Doch wie? Harry war nicht hier und mir war sicher nicht danach nach ihm zu suchen. Auch wenn ich mir zu 90% sicher sein konnte, dass er entweder bei Gemma oder im Club bei Scott war. Um mir dessen sicher zu werden, schrieb ich Scott eine Nachricht.

Ganz selten, wenn mir das Leben über den Kopf wuchs, fragte ich mich, wieso ich hier war. Ich hatte ein ruhiges und definitiv weniger stressiges Leben geführt. Doch dann erinnerte ich mich, wie einfach und langweilig es gewesen war. Und daran, wie sehr ich Harry liebte. Ich seufzte und verließ das Arbeitszimmer. Als mein Handy vibrierte las ich, dass Harry bei Scott in Club saß und sich bei ihm über Louis ausließ. Ich schrieb, dass er gut auf ihn aufpassen sollte. Dann ging ich ins Schlafzimmer und ließ mich auf das Bett fallen. Als mein Handy wieder ertönte, dachte ich, dass Scott geantwortet hatte, doch es war keine Nachricht, sondern ein Anruf. Die Nummer kannte ich nicht, jedoch wusste ich, woher die Vorwahl war.
„Hallo?"
„Mrs. Hensley, hier ist Dr. Robinson.", sagte der Mann am Telefon. Kurz darauf erinnerte ich mich an der Arzt, der damals meinen Vater behandelt hatte.
„Dr. Robinson, was kann ich für Sie tun?", fragte ich freundlich.
„Ich wünschte, es wären bessere Umstände, unter derer wir Kontakt haben würden. Leider rufe ich wegen Ihres Vaters an." Erschrocken setzte ich mich auf.
„Was ist mit meinem Vater?"
„Er hatte wieder einen Herzinfarkt. Wir mussten ihn in ein künstliches Koma versetzen und wenn ich ehrlich sein darf, es sieht nicht gut aus.", sagte er ruhig. Er kannte das sicher schon. Ganz im Gegensatz zu mir.
„Ihre Mutter weiß nicht, dass ich Sie anrufe, doch ich bin mir sicher, dass es für Sie beide besser wäre, würden Sie herkommen."
„Ich, i-ich danke Ihnen. Ich werde mich sofort auf den Weg machen.", stotterte ich und legte auf. Paralysiert ließ ich das Handy sinken und sah aus dem Fenster. Tränen verschleierten meine Sicht, als ich wankend eine Tasche aus dem Schrank holte und alles wichtige hineinstopfte. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch es half alles nichts. Es gab nur eine Sache, die mir jetzt helfen würde. Ich eilte zurück ins Schlafzimmer und ergriff mein Handy. Innerlich betete ich, dass er rangehen würde.
„Hallo?" Ich seufzte vor Erleichterung und hätte glatt vergessen, was ich sagen wollte.
„Mary, was ist?", fragte Harry. Ich setzte mich langsam und begann zu schluchzen.
„Hey, du brauchst doch nicht weinen. Es ist doch nur ein Streit. Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe und dass ich so gemein zu dir war. Mary?" Ich schniefte und wischte mit die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich, es ist mein Dad."
„Was? Was ist mit ihm?", fragte er. Ich konnte hören, wie Gläser im Hintergrund klirrten und Harry leise mit jemandem redete.
„Ich komme, hörst du? Bleib zuhause, ich komme." Dass ich nickte konnte Harry nicht hören. Als er aufgelegt hatte, ließ ich erneut das Handy sinken. Was sollte ich nur tun? Würde es überhaupt helfen, wenn ich zu ihm fahren würde? Wieso war es überhaupt schon wieder mein Dad, der sich in dieser Situation befand? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antworten hatte.
„Mary?", rief Harry. Ich wollte mich bemerkbar machen, doch es kam kein Pieps aus meinem Mund. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis Harry mich gefunden hatte. Er blieb in der Tür stehen und sah mich an. Kaum erblickte ich seinen mitleidigen Blick und die Liebe in seinen Augen, begann ich wieder zu weinen. Harry kam zu mir und nahm mich in den Arm. Es fühlte sich gut an, von ihm getröstet zu werden und auch wenn ich wegen meines Dads sehr durcheinander war, wusste ich, dass das mit Harry richtig war. Ich liebte ihn einfach.
Als ich mich etwas beruhigt hatte, entdeckte Harry die Tasche auf dem Boden.
„Lass uns losfahren." Ich sah zu ihm auf, während er gerade aus sah. Dann senkte er seinen Blick.
„Komm, ich bringe dich zu deinem Dad.", flüsterte Harry. Ich wollte aufstehen, doch er hielt mich an der Hand fest.
„Ich liebe dich, Mary." Meine Stimme ließ weiterhin auf sich warten. Statt ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebte, nahm ich sein Gesicht in meine Hand und küsste ihn fest.
Dann stand auch Harry auf. Er nahm meine Tasche und meine Hand. Während er durch die Wohnung lief und alles einsammelte, was wir für die Fahrt brauchen würden.
„Warze kurz, ich hole noch etwas." Ich nickte und sah Harry hinterher, als er zur Couch ging und etwas aus dem kleinen Schränkchen daneben nahm. Dann kam er zu mir zurück. Sanft legte seine Arme um mich und sah mir tief in die Augen.
„Was auch immer uns dort erwartet, ich werde bei dir sein. Jetzt und für so lange, wie du mich darum bittest." Auf diese Worte folgte ein langer und leidenschaftlicher Kuss.
Wir verließen das Appartement und kurz darauf London. Während Harry fuhr, lag seine Hand auf meinem Bein und drückte meine Hand. Er war der Halt, den ich gerade jetzt brauchte.

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt