Teil 30 - Schwindelerregend

257 19 2
                                    

Den Rest des Tages änderte sich nichts mehr an Harrys Verhalten.
Der Besuch im Krankenhaus dauerte nicht allzu lange, sodass wir kurz darauf weiter fuhren, in Richtung London Eye. Inzwischen hatte ich nicht mal mehr Lust darauf, mit dem Riesenrad zu fahren, geschweige denn, Zeit mit Harry zu verbringen. Zu sehr quälte es mich, dass ich bei jeder seiner Berührungen, egal wie leicht sie auch war, zusammen zuckte und Gänsehaut bekam. Er schien das nicht zu bemerken. Wir parkten etwas vom Riesenrad entfernt und gingen, noch immer schweigend zum Fahrgeschäft. Es war nicht allzu voll, was vermutlich daran lag, dass es mittags war und dass das Wetter nicht sehr schön war.
„Zwei Karten bitte.", sagte Harry und reichte dem Mann an der Kasse einen Schein. Ich lächelte ihn an und folgte Harry dann zu den Gondeln. Es war lange her, dass ich das letzte und erste mal mit dem London Eye gefahren war und während ich mich kaum noch daran erinnerte, erinnerte ich mich deutlich daran, wie sich meine Höhenangst bemerkbar machte. Harry öffnete die Tür der Gondel und ließ mich vor sich einsteigen. Es wunderte mich nicht, dass er sich, bevor er die Tür schloss, mir gegenüber anstatt neben mich setzte. Als das Rad anfing sich zu drehen, krallte ich mich mit beiden Händen am Geländer fest. Alles wackelte und wirkte nicht sehr sicher. Mein Puls beschleunigte sich und dieses Mal war es nicht wegen Harry.
Ich sah zu ihm und begegnete seinem fragenden Blick.
„Jetzt sag nicht, du hast Höhenangst.", sagte er und lachte, als ich nur leicht nickte. Sprechen war nicht mehr möglich. Wir fuhren höher und höher, weshalb meine Angst wuchs. Harry seufzte und kam auf meine Seite, wobei die Gondel gefährlich wackelte.
„Wieso hast du denn nichts gesagt?", fragte er, woraufhin er nur einen bösen Blick von mir erntete. Er legte seinen Arm um mich und rutschte näher zu mir.
„Schließ deine Augen."
„Aber-„
„Vertrau mir, Mary. Schließ deine Augen.", sagte er. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und schloss tatsächlich die Augen. In gefühlten tausend Metern Höhe. Ich roch Harrys Parfüm und hätte beinahe geseufzt. Plötzlich erhaschte uns ein Windzug und die Gondel wackelte. Ich krallte meine Hände in seinen Pullover und kniff die Augen fest zusammen. Harry strich mir über den Rücken.
Mit einem Ruck hielt das Riesenrad an. Vorsichtig blinzelte ich und öffnete meine Augen. Harry sah hinaus. Als ich meinen Kopf anhob, blickte er zu mir hinab und lächelte.
„Siehst du, ist doch gar nicht so schlimm.", sagte er und nahm seinen Arm hinter mir weg. Er rutschte etwas weg, doch ich rutschte hinterher. Nicht, weil ich nicht wollte, dass er gleich wieder auf Abstand ging, sondern weil ich einfach Angst hatte.
„Wir stehen, du brauchst keine Angst haben."
„Ich habe keine Angst vor der Bewegung, Harry. Sondern vor der Höhe.", bemerkte ich. Aber wenn es ihm unangenehm war, dass ich ihm so nah war, konnte er seinen Freiraum gerne behalten. Ich rutschte etwas zur Seite und sah hinaus. Der Anblick war beängstigend. Als die Bewegung wieder einsetzt, krallte ich mich erneut am Geländer fest. Es war nervenaufreibend. Ich freute mich leicht, als wir oben ankamen, weil das bedeutete, dass es nun wieder hinab gehen würde. Dass wir ganz oben anhielten hingegen, war die reinste Folter für mich. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, doch es half nichts. Plötzlich spürte ich Harrys Hände an meiner Hüfte, wie sie sich um meinen Bauch legten und mich leicht an ihn drückten.
„Denk einfach an etwas schönes.", flüsterte er in mein Ohr. Ich bekam Gänsehaut und das Kribbeln setzte wieder ein. Wie Harry gesagt hatte, dachte ich an etwas schönes. Ich dachte an die Gala, unseren Tanz und den Abend danach. Dann dachte ich an gestern Abend, wo ich endlich herausgefunden hatte, was mir die letzten Wochen noch zu meinem Glück gefehlt hatte.
„Woran denkst du?", fragte er leise. Ich öffnete noch immer lächelnd meine Augen und lehnte meinen Kopf zurück, sodass ich Harrys  sehen konnte. Eine Weile sahen wir uns einfach nur an.
„Ich habe an die letzten Abende gedacht. Speziell an den gestrigen.", flüsterte ich und lächelte. Noch immer hatte Harry den nicht zu deutenden Gesichtsausdruck aufgelegt, doch dann begann er zu lächeln. Ich setzte mich auf und drehte mich zu ihm um. Harry schien unsicher, weshalb ich diejenige war, die die Distanz zwischen uns verringerte. Ich saß nun direkt vor ihm und blickte in seine schönen, grünen Augen.
„Ich habe versucht, mich von dir fernzuhalten, dabei will ich das gar nicht.", hauchte er und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Lächelnd nahm ich seine Hand in meine, rutschte noch näher und lehnte mich vor.
„Dann lass es.", sagte ich und sah auf seine Lippen. Sie verzogen sich zu einem zufriedenen Grinsen. Ich blickte zu Harrys Augen auf, die auf meine Lippen gerichtet waren. Er sah auf und als sich unsere Blicke trafen, wobei mein Herz beinahe stehen geblieben wäre, küsste er mich. Seine Lippen lagen warm und weich auf den meinen. Seine Hände zogen an meiner Jacke, sodass ich noch näher an ihn gezogen wurde. Ich legte meine Hände um seinen Hals und zog ihn weiter runter. Harry stöhnte auf und lächelte in den Kuss hinein. Meine Hände wandten sich in seinen Haaren, während Harrys Hände mein Gesicht hielten. Die Leidenschaft war deutlich spürbar, doch im Vordergrund spürte ich etwa anderes. Harry küsste mich nicht wie gestern. Es küsste mich sanft und vorsichtig, als würde ich weglaufen, wenn er den Kuss vertiefen würde.
„Entschuldigen Sie, Sie müssen jetzt aussteigen." Erschrocken und außer Atem ließen wir voneinander ab. Ich lächelte verlegen und folgte Harry aus der Gondel. Er reichte mir seine Hand beim Aussteigen und ließ sie auch danach nicht los.
„Das war peinlich.", sagte er und lachte. Doch ich dachte nicht mehr an eben. Ich war mit meinen Gedanken in diesem Moment. Mein Blick ruhte auf unseren Händen; unsere verflochtenen Finger. Ich lächelte und streichelte Harrys Handrücken mit meinem Daumen. Als ich zu ihm aufsah, begegnete ich seinem Blick. Harry blieb stehen und atmete tief durch.
„Ich habe wirklich versucht, mich von dir fern zu halten, doch das ist schwerer, als ich gedacht hätte. Ich habe schon lange gespürt, dass da etwas zwischen uns ist, Mary. Und ich glaube, du spürst es inzwischen auch.", sagte er leise. Ich blickte ihn einfach nur an. Statt ihm zu antworten, stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und küsste ihn sanft.

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt