Teil 39 - Blind

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Heute war Sonntag. Das Essen bei Harrys Eltern war inzwischen vier Tage her. Seit dem hatte er sich nicht mehr gemeldet. Doch wen wunderte das schon.
"Magst du shoppen gehen?", fragte Lya.
"Nein, danke."
"Cocktails?"
"Nope."
"Tanzen?"
"Verzichte."
"Aber auf irgendwas musst du doch Lust haben!", fluchte Lya. Ich seufzte und setzte mich auf. In meinem Schlafzimmer sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
"Mary, bitte. Lass dich doch jetzt nicht so wegen Harry hängen. Der meldet sich sicher bald und dann wird alles gut und ihr bekommt viele kleine Harrys und Marrys...", philosophierte meine Freundin. Ich rollte mit den Augen und pustete eine Strähne aus meinem Gesicht.
"Ha, ha, ha, sehr witzig Lya. Ich glaube, ich muss hier mal wieder etwas aufräumen, aber danke für deine Mühe.", sagte ich.
"Na gut, aber spätesten Morgen hole ich dich mal wieder aus deiner Höhle raus." Seufzend legte ich auf. Nett von Lya, dass sie mich aufheitern wollte, doch ich wollte nicht aufgeheitert werden, das war hier das Problem. Ich zog mir eine Jogginghose an und ging dann in die Küche, wo sich das Geschirr nur so stapelte. Während ich den Geschirrspüler einräumte, dachte ich natürlich an Harry. An den Abend, als er mich bei Lucas abgeholt hatte; den Kuss im Regen; sein Verhalten vor seiner Familie...
Keiner dieser Momente sprach gegen das, was ich schon seit einer Weile zwischen Harry und mir vermutete. Oder eher das, was sich mittlerweile zwischen uns angestaut hatte. Er musste es doch auch spüren. Diese Energie, die jedes mal deutlich zu spüren war, wenn wir uns berührten. Es war mehr als nur ein leichtes Kribbeln. Wenn Harrys Lippen meine Haut berührten, fühlte es sich an, als würde ich brennen. Doch nicht auf die unangenehme Art und Weise. Es war intensiv und stark, doch gleichzeitig leidenschaftlich und angenehm. Es war eben wie Harry - unberechenbar.
Wie es wohl wäre, Harrys Freundin zu sein? Die Berühmtheit und die Aufmerksamkeit der Medien würde ich wohl verkraften, immerhin kannte ich den Trubel schon auf die ein oder andere Weise. Umziehen müsste ich auch nicht, da wir in der gleichen Stadt wohnen. Doch vielleicht wollte ich ja zu ihm ziehen. In sein schönes, großes Appartement, in dem ich mich momentan mehr zuhause fühlte, als in meinen eigenen vier Wänden. So wie Sammy. Auch das wäre also kein Problem. Anscheinend hatte Harry doch kein allzu großes Problem mehr mit Katzen, wie Anne gesagt hatte. Ach und Harrys Familie...
Sie waren alle so nett gewesen. Abgesehen von den Sorgen, die ich mir wegen Gemma und dem, was sie gesehen hatte, machte, mochte ich sie alle sehr gerne.
Alles in allem schien das einzige, was zwischen Harry und mir und unserem Glück stand, nur Harry und ich zu sein. Doch das machte es nicht leichter. Ich wusste nicht, wieso Harry sich so verhielt. Sein Verhalten ergab für mich keinen Sinn.

Ich legte die Sofadecke zusammen, schüttelte die Kissen aus und öffnete ein Fenster. Für Außenstehende musste es hier fürchterlich müffeln. Dann ging ich ins Schlafzimmer, wo ich meine Anziehsachen aufsammelte und in den Wäschekorb legte. Es war sicher fast alles dreckig und stank. Anschließend saugte ich die gesamte Wohnung. Der Staubsauger lief auf Hochtouren, während ich in meinen Gedanken noch immer bei Harry war. Es war schrecklich. Er befand sich 24/7 dort und es schien nicht weniger zu werden. Eher im Gegenteil.
Nachdem ich gesaugt hatte, ging ich duschen. Es tat gut, das warme Wasser über meine Haut fließen zu spüren. Das einzig Negative am Duschen war doch eben das Nachdenken. Meine Gedanken kreisten noch wilder, als vorhin in der Küche.
Nur in ein Handtuch gewickelt ging ich ins Schlafzimmer, wo ich mir Unterwäsche und einen langen Pulli anzog. Ich setzte mich auf mein Bett und seufzte. Das ganze war so anstrengend. Ich wusste nicht, was nun zwischen Harry und mir war und ich wusste nicht, wieso er sich verhielt, wie er sich verhielt. In meinen Augen war es kindisch und unreif. Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir beide bereits lange aus dem Alter raus waren. Doch da hatte ich mich wohl geirrt. Innerlich verfluchte ich Harry dafür, dass er mich unentwegt an ihn denken ließ. Dass er bei jeder Gelegenheit Hoffnung machte und sie im selben Atemzug wieder zerschlug. Doch vielleicht war Harry einfach so. Vielleicht war es für ihn normal, Menschen von sich zu stoßen, wenn es zu ernst wurde. Dies würde sein Verhalten der letzten Wochen erklären, jedoch nicht das von davor.
Mein Handy zog seine Aufmerksamkeit auf sich, als es klingelte. Es zeigte mir einen Anruf meiner Mum an.
"Hallo, Mum.", sagte ich und lächelte tatsächlich. Das Gespräch mit ihr würde mir sicher gut tun.
"Mary...", schluchzte sie. Ich ahnte nicht Gutes, als ich ihre brüchige Stimme vernahm.
"Mum? Was ist los?"
"Es ist... dein Vater, er hatte -  er ist...", stotterte sie. Ich schluckte und setzte mich auf das Bett.
"Was ist mit Dad?"
"Er hatte einen Herzinfarkt.", hauchte sie. Während ich sie weinen hörte, versuchte ich zu realisieren, was sie gesagt hatte. Mein Dad hatte einen Herzinfarkt erlitten. Das war nicht gut. Aber es bedeutete auch nicht, dass er tot war. Sicherlich gab es eine Chance, dass alles gut war.
"Wie geht es ihm? Was sagen die Ärzte? Ich mache mich sofort auf den Weg!!!", sagte ich, ohne die Antworten meiner Mum abzuwarten. Ich legte auf und zog mir schnell etwas über. Ein paar saubere Sachen verstaute ich in einer Tasche. Dann lief ich aus meiner Wohnung und rief mir ein Taxi. Ich stieg ein, nannte dem Fahrer mein Ziel und wählte Harrys Nummer.
Denn es gab nur einen Ort, an dem ich jetzt sein wollte.

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt