Teil 54 - Ende des Kämpfens

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Im Leben gibt es Ereignisse, auf die man sich vorbereiten kann, zum Beispiel Abschlüsse, Umzüge, Hochzeiten...
Doch es gibt auch jene, die sich anschleichen oder gar nicht erst in Betracht gezogen werden, bevor sie geschehen. Eines dieser Ereignisse ist der Tod. Manchmal kündigt er sich an, zum Beispiel als Herzinfarkt, wie bei meinem Dad. Doch häufig kam er plötzlich und unerwartet.
Aufgrund meines Jobs war ich dem Tod sehr nahe, doch ich ahnte nicht, wie nah ich ihm in dieser Woche noch kommen würde...

„Guten Morgen.", raunte Harry und küsste meinen Hals. Ich lehnte mich an ihn und stellte den Wasserhahn aus. Dann drehte ich mich zu ihm um und küsste ihn.
„Hast du gut geschlafen?", fragte ich ihn. Harry spielte mit einer meiner Haarsträhnen und seufzte.
„Sehr gut sogar. Ich hätte nur gerne noch etwas gekuschelt. Wieso bist du so früh auf?"
„Ich muss gleich ins Krankenhaus. Hast du nichts vor heute?", fragte ich. Harry schob seine Hände unter mein Shirt und zog mich näher an sich.
„Eigentlich hatte ich vor gehabt, Zeit mit meiner wunderschönen Freundin zu verbringen, doch daraus wird dann wohl vor heute Nachmittag nichts. Vielleicht rufe ich mal meine Mum an und lade sie zum Tee ein.", schlug Harry vor. Ich fuhr durch die Haare in seinem Nacken und grinste.
„Da würde sie sich sicher drüber freuen. Lad sie aber nicht zu früh ein, damit ich sie auch noch antreffe." Harry nickte und küsste mich. Seine Hände fuhren über meinen Rücken hinunter zu meinem Hintern, wo sie zupackten und mich hochhoben. Ich hielt mich an Harrys Schultern fest, als er mich auf einen der Hocker setzte und sich zwischen meine Beine stellte.
„Hast du nicht doch noch etwas Zeit für mich?", flüsterte er in mein Ohr. Ich kicherte und bekam augenblicklich Gänsehaut.
„Ich glaube, mehr als das hier ist nicht mehr drin, sorry.", keuchte ich. Harry küsste meinen Hals hinab zu meinem Dekolleté und seufzte, als er den Rand meines BHs erreichte.
„Schade.", sagte er und ging weg. Schockiert sah ich ihm hinterher. Mein Herz raste, meine Haut glühte und er ließ mich hier so sitzen, weil ich keine Zeit für Sex hatte?
„Ey!", rief ich im hinterher. Harry blieb stehen und drehte sich zu mir. Ich ging zu ihm, legte meine Hände auf seine Brust und fuhr mit der einen langsam hinab, bis zum Bund seiner Boxershorts. Harry zog die Luft scharf ein, als ich einen Finger unter das Gummi schob und dann inne hielt. Er sah mich erschrocken an, während ich grinste.
„Jetzt sind wir quitt, bis heute Nachmittag.", sagte ich, küsste ihn kurz und ging dann in den Flur,
„Das war nich fair!", rief Harry mir hinterher.
„Ich liebe dich auch, bis später." Ich verließ das Appartement, stieg in mein Auto und fuhr los. Das Wetter ließ wie so häufig zu wünschen übrig. Bereits nach wenigen Minuten sah ich kaum ein paar Meter weit, als ich durch die Stadt fuhr. Es trübte meine eben noch so euphorische Laune und ließ mich grübeln. Jetzt wäre ich gerne in LA gewesen...
Ich parkte in der Tiefgarage des Krankenhauses, nahm die Kiste aus dem Kofferraum und stieg in den Aufzug. Zwar freute ich mich auf die Kinder, doch das mulmige Gefühl in meinem Bauch nahm zu, je höher ich fuhr. Oben stieg ich aus und sah mich um. Es war, als würde ich noch immer durch den Regen laufen. Als wäre alles grau und trist, wenn man in die Gesichter sah. Sie sahen traurig und niedergeschlagen aus. Misstrauisch ging ich zu dem Empfang, an dem Schwester Lucy meistens saß. Doch heute war sie nicht da.
„Hallo, ist Schwester Lucy da?", fragte ich und lächelte freundlich. Die Schwester vor mir sah auf, wobei mir ihre geschwollenen Augen auffielen. Sie bemühte sich zu lächeln, doch es gelang ihr nicht so recht.
„Tut mir leid, aber Schwester Lucy hat sich für diese Woche frei genommen."
Ich kannte Schwester Lucy noch nicht lange, geschweige denn gut, aber ich wusste, wenn sie sich frei genommen hatte, musste etwas passierte sein...
Das Gefühl in meinem Bauch wurde stärker, als ich die Kiste in den Leseraum stellte und dann den Gang runter ging. Ich beobachtete die Gesichter und ahnte nichts Gutes, als ich am Ende des Ganges um die Ecke bog und die Intensivstation betrat.
Beim dritten Zimmer rechts blieb ich stehen, unsicher, warum mich bis hier noch niemand aufgehalten hatte. Vorsichtig stieß ich die angelehnte Tür auf und blickte hinein.
Ein unberührtes Zimmer. Das Bett gemacht. Keine Geräte drumherum. Kein Patient. Keine Lilly.
Wie paralysiert ging ich hinein und setzte mich auf den Stuhl, der am Fenster stand. Ich betrachtete das Bett und erinnerte mich an das kleine, blonde Mädchen, das gemeinsam mit seinem Teddy auf seinem Bett gesessen hatte und ihm erzählte, was es zum Mittagessen gab.
Eine Träne landete auf meiner Hand. Ich sah hinab und lächelte. Wir alle hatten gewusst, dass dieser Tag näher rückte und doch war keiner dafür bereit gewesen. Wie sollte man bereit dafür sein, jemanden wie Lilly gehen zu lassen? Überhaupt jemanden gehen zu lassen...
Doch sie hatte den Kampf überstanden. Jahre des harten Kämpfens lagen nun hinter ihr und sie hatte keine Schmerzen mehr, das beruhigte mich etwas. Lilly war nun dort, wo sie hingehörte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trat ich aus dem Zimmer und schloss die Tür.
„Mary-Jane?", fragte jemand. Ich drehte mich um und entdeckte Lillys Mutter bei einer der Schwestern. Sie kam mit Tränen in den Augen auf noch zugeeilt und warf sich in meine Arme. Während sie weinte, strich ich Uhr über den Rücken und sprach tröstliche Worte.
„Wissen Sie, ich vermisse Lilly schon jetzt.", keuchte sie.
„Ich auch. Aber sie ist jetzt, wo sie sein sollte. Sie hat ihren Frieden gefunden." Lillys Mutter nickte und putzte sich die Nase. Sie sagte mir, dass Lilly bereits vor wenigen Tagen verstorben war.
Außerdem noch, dass ihre Beerdigung in drei Tagen war. Diesen Tag merkte ich mir genau.
So war das mit dem mulmigen Gefühl; es enttäuschte mich nie...

Roses (II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt