Kapitel 12

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Vorsichtig trat ich mit einem Bein aus der Dusche. Als ich den weichen Teppich unter meinen Füßen spürte, kam ich ganz heraus und wickelte mir das Handtuch um den Körper. Die Dusche hatte echt gutgetan. Ich rubbelte mit einem zweiten Handtuch meine blonden Haare ein wenig trocken, dann machte ich mich auf die Suche nach einem Fön. Ich öffnete die Schubladen und Schränke, jedoch ohne Erfolg. Darin lagen entweder noch mehr Handtücher, teures Rasierwasser oder anderer Krimskrams der Jungs. Ein typischer Männerhaushalt eben.

Schließlich band ich mir einen Turban und beschloss, Harry um Rat zu fragen. Immerhin hatte er die längsten Haare. Durch ein "Herein" wurde ich in sein Zimmer gebeten, kurz nachdem ich angeklopft hatte. Harry konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als ich eintrat. Klar, ich hatte nur das Handtuch um den Körper gewickelt. Er erhob sich aus seinem Bett und stemmte die Hände in die Hüften.

"Na, was gibt's so dringendes?"

"Hast du einen Fön?", kam ich direkt zum Punkt.

"Das fragst du mich? Wegen meiner langen Haare, oder? Das sind Naturlocken, deshalb müssen sie auch von Natur aus trocknen!"

Wovon redete er bitte? Ein Blick in seine Augen klärte mich auf: er log, da sie funkelten, wie bei der Skater-Geschichte.

"Und wie lange dauert das so? Drei Jahre?", scherzte ich. Er grinste mich an und erwiderte: "Okay, vielleicht steckt doch ein wenig mehr hinter meiner Haarpracht; einen Moment." Dann stapfte er zu seiner Kommode und holte einen schwarzen Fön aus der zweiten Schublade.

"Ich brauche ihn aber wieder, klar?", sagte er mit gespielter Strenge und schüttelte dabei seinen Kopf, sodass die braunen Locken wild herumtanzten.

"Klar bekommst du ihn zurück. Irgendwann!" Ich machte mich, so schnell es mit einem Handtuch um den Körper möglich war, aus dem Staub. Wie gerne hätte ich Harrys verdatterten Blick gesehen, doch jetzt sollte ich zuerst meine Haare trocknen.

Kurz darauf lief ich, mit getrockneten Haaren, die Treppe nach unten und ging in die Küche. Dort stand Liam vor dem Kühlschank und bemerkte zuerst gar nicht, dass ich eingetreten war.

"Oh, Morgen Hope! Alles okay?", begrüßte er mich.

"Äh, hi. Wo ist Niall?", sprach ich meine Frage aus, die mir sofort in den Kopf geschossen war.

"Beschäftigt", antwortete er knapp.

"W-was?"

"Je weniger du weißt, desto besser ist es für dich. Vertrau mir."

Ja, als ob das so einfach wäre! Liam sagte das, als wäre es selbstverständlich, jedem Fremdem einfach sein Vertrauen zu schenken! Er ging nicht weiter auf das Gespräch ein, sondern deckte wortlos den Tisch. Na super! Jetzt redete er gar nicht mehr mit mir! Und ich wusste immer noch nicht, wo Niall abgeblieben war. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach in mein Zimmer zu gehen, doch das würde Liam nur zum Ausrasten bringen, und darauf hatte ich keine Lust. Also ließ ich mich auf einen Stuhl sinken und aß schweigend mein Müsli. Lag das nur an mir oder war er immer so?

Nach dem Frühstück machte ich mich lautlos aus dem Staub und verschwand nach oben. Hektisch stapfte ich in meinem Zimmer auf und ab. Mir war langweilig und ich hatte keine Ahnung, wie ich mir die Zeit sinnvoll vertreiben sollte. Im Waisenhaus hatte ich meine Bücher, den Zeichenblock, ein Notizbuch für Geschichten und ein Radio. Außerdem Kontakt zu Gleichaltrigen, doch hier war niemand; das Haus schien regelrecht leergefegt.

Plötzlich klopfte es an meine Tür. Ich zuckte erschrocken zusammen. Louis öffnete vorsichtig die Tür, als ich nicht antwortete. In der Hand hielt er ein kleines Päckchen.

"Hey Hope. Na, alles in Ordnung?"

Ich nickte knapp und starrte weiterhin auf das Päckchen. Er bemerkte meinen Blick und erklärte: "Oh, das! Niall hat mir erzählt, dass du gerne liest, deshalb habe ich einen E-Reader gekauft."

Einen E-Reader? Zum Lesen? Ich bevorzugte ja echte Bücher, aber gut.

"Danke!", brachte ich gezwungen hervor und betrachtete das erhaltene Geschenk.

Louis verließ mein Zimmer wieder, nachdem er mir erklärt hatte, wie alles funktionierte. Außerdem hatte er ein paar Bücher heruntergeladen. Ich setzte mich auf mein Bett und fing an zu lesen, driftete jedoch nach einiger Zeit in meine Gedankenwelt ab. Obwohl Liam mir gesagt hatte, dass immer mindestens einer zuhause sein würde, fühlte ich mich alleingelassen. Andererseits, was hatte ich erwartet? Vier junge Männer, allesamt kriminell, mussten von heute auf morgen auf ein junges Mädchen aufpassen. Vielleicht brauchten sie einfach ein bisschen Zeit, um mit der Situation klarzukommen. Andererseits hatten sie sich das selbst ausgesucht, also mussten sie damit auch klarkommen.

Selbst ich musste mir eingestehen, dass es eine große Veränderung bedeutete. Trotzdem fühlte ich mich bereit. Ich beschloss, den Jungs eine Chance zu geben. Vielleicht war es nicht so, wie ich mir eine Familie vorstellte, aber es war trotzdem aufregend.

Genug nachgedacht für heute!, meldete sich meine innere Stimme zu Wort.

Manchmal wünschte ich mir, ich könnte sie abstellen.

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