Kapitel 73

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11. November

8:23 Uhr

Ich hatte mich getäuscht. Es gab noch etwas Unbequemeres als das Bett in meiner Zelle, nämlich diesen Tisch hier. Ich hatte ungelogen auf dem Tisch im Verhörraum geschlafen und meinen Arm als sporadisches Kopfkissen verwendet. Nachdem Izzy gegangen war, wollte irgendwie kein anderer mich befragen und so verbrachte ich den Rest des Tages in diesem Raum. Beim Essen schlug ich voll zu, auch wenn sich diese Nudeln mit Tomatensauce nicht entscheiden konnten, wonach sie jetzt schmecken sollten.

Mein Notizbuch war der Retter in der Not, damit ich nicht vor Langeweile draufging, denn die hatte man hier in Unmengen. Es war ein bisschen umständlich, mit nur einer Hand das Büchlein aufzuhalten und zu schreiben, denn die andere war nach wie vor an den Stuhl gekettet. Zudem schaffte ich es nicht, Izzys Worte aus meinen Gedanken zu verbannen. Schlussendlich übermannte mich der Schlaf und ich nickte weg.

Jetzt wurde ich von frischem Kaffeegeruch geweckt. Ich blinzelte und öffnete meine Augen, dann hob ich den Kopf. Verschlafen fuhr ich mir durch die Haare und stellte begeistert fest, dass meine linke Hand wieder frei war. Jemand hatte die Handschellen über Nacht wohl gelöst.

Vor mir dampften zwei Becher Kaffee von Starbucks vor sich hin, daneben stand eine Packung Donuts. Was ging hier ab? War der Koch doch noch zur Vernunft gekommen? Bevor ich weiter in meinen Fantasien schwelgen konnte, stand die Antwort bereits in der Tür. Oder eher jemand, der Klarheit schaffen konnte.

Izzy. Schon wieder.

"Dir auch einen guten Morgen", grüßte sie, als ich ihr einen finsteren Blick zuwarf.

"Was soll das sein? Bestechung?" Ich beobachtete, wie sie sich an den Tisch setzte und seufzte.

"Nein. Dein erstes Frühstück in Freiheit, Dummerchen." Ich verstand nur Bahnhof. Das konnte sie wohl an meinem Gesichtsausdruck ablesen, deshalb führte sie aus: "Ob du's glaubst oder nicht: die Anklage gegen dich wurde zurückgezogen, das heißt, du bist frei. Entlassen. Kapiert?"

Nein. Kein Bisschen. Wieso sollte man die Anklage zurückziehen? Erst gestern war ich noch die, die ohne Verstand handelte und jetzt war ich das Unschuldslamm?

"Jetzt trink schon deinen Cappuccino, sonst wird er kalt! Außerdem müssen wir gleich weiter, also wird's bald!"

"Das ist doch alles ein schlechter Scherz, oder?" Ich konnte das nicht fassen. Zudem glaubte ich ihr nicht mehr, seit sie mein Vertrauen ausgenutzt hatte.

"Nein, ist es nicht. Spätestens heute Nachmittag wird dir jemand Klarheit schaffen, versprochen. Ich kann dir so viel sagen: wir fliegen zurück nach Amerika und dann sehen wir weiter."

Wir? Konnte sie nicht hierbleiben? Und was sollte ich in Amerika? Oh nein, ich musste doch nicht-

"Und nein, du musst nicht zurück ins Waisenhaus", sagte Izzy, als hätte sie meine Gedanken gelesen, "es geht darum, dass dein Erziehungsberechtigter in die Staaten ausgeliefert wird und naja, du kannst nicht alleine hierbleiben."

"Ausgeliefert" klang krass, aber Izzy meinte, es wäre so etwas wie eine "Abschiebung" (was sich auch nicht unbedingt besser anhörte). Es lief jedoch auf eines hinaus: die Amerikaner wollten zurück, was ihnen gehörte. Da alle Verbrechen in den USA verübt wurden, würden die Jungs auch dort dafür geradestehen müssen. Irgendwie verständlich.

Ich schnappte mir also meinen Kaffee und folgte Izzy in meinen grauen, langweiligen Klamotten in eine Tiefgarage. Schon beim Weg dorthin fiel mir auf, dass mein Plan, von wegen: "raus aus der Tür und weg hier", niemals funktioniert hätte. Manchmal kamen uns Leute in Anzügen oder Beamte entgegen, außerdem bogen wir gefühlt zwanzig Mal um eine andere Ecke und wechselten dreimal die Etage. In der Garage wartete bereits ein Wagen auf uns. Wir setzten uns auf die Rückbank und schnallten uns an.

"Wohin fahren wir?", fragte ich und ließ meinen Blick aus dem Fenster schweifen.

"Ich dachte mir, dass du nicht in diesen Klamotten zum Flughafen willst, also packen wir."

"Das heißt, wir fahren nach Hause?" Das Haus, indem wir gewohnt hatten, traf es besser. Izzy nickte nur, dann schluckte sie und sah mich ernst an.

"Hör mal, es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe. Ich hatte Unrecht, deinen Jungs bist du wohl mehr wert, als du dir vorstellen kannst." Ich wusste nicht genau, was sie damit sagen wollte, aber ich war froh über ihre Einsicht.

"Sorry, dass ich so ausgerastet bin. Es ging nun mal um meine Familie."

Es fühlte sich gut an, dass der Streit von gestern nicht mehr zwischen uns stand. Trotzdem hatte das Vertrauen einen großen Knacks abbekommen. Izzy schien das auch zu fühlen, denn sie schwieg für den Rest der Fahrt. Ein komisches Gefühl überkam mich, als das Auto in unsere Straße einbog. Es verstärkte sich, als wir ausstiegen, über den kleinen Gehweg gingen, unter dem Absperrband hindurchschlüpften und ins Haus verschwanden.

"In circa einer Stunde tauchen die von der Spurensicherung auf, dann müssen wir draußen sein. Duschen und umziehen kannst du dich bei mir." Mit diesen Worten verschwand sie in mein Zimmer. Ich starrte ihr wie gelähmt nach. Nach einigen Minuten setzte ich mich jedoch in Bewegung packte alles Mögliche ein, das ich in die Finger bekam. Meinen Rucksack schnappte ich mir zuerst, dann ging ich ins Esszimmer.

Mir fiel auf, dass unser Haus eine wahre Fundgrube abgab. Überall fand ich Krimskrams der Jungs, und zwar von jedem einzelnen. Es zeigte mir, wie wohnlich die Jungs das Haus gestaltet hatten. Und das unbewusst. Verglichen mit dem Haus in New York wirkte es hier gemütlich. Auf moderne Möbel wurde nicht verzichtet und trotzdem änderten die Kissen, Decken und Dekorelemente so einiges.

Meine Entdeckungstour begann: ich packte Nialls Gitarre vorsichtig in den vorgesehenen Koffer, stolperte beinahe über die ganzen Schuhe im Gang, fand eine von Louis' Caps sowie eine schwarze Strickmütze in Liams Zimmer, holte mein Kochbuch aus der Küche und packte meine Kosmetiktasche im Bad. Als ich durchs Wohnzimmer schritt, blieb ich abrupt stehen, als ich den schwarzen Hoodie erblickte, der über einer Stuhllehne hing. Er gehörte Leroy. Schwer seufzte ich, dann packte ich ihn ebenfalls in den Rucksack.

Ich kehrte in mein Zimmer zurück, indem Izzy fleißig meinen Schrank ausräumte. Während sie alles Wichtige in den Koffer schichtete, fing ich an, die Bilder an meiner Wand abzuhängen. Knapp zwanzig Minuten später waren alle Koffer im Auto verstaut, ich hatte geduscht und mich umgezogen. Mit meinen schwarzen Schuhen und Harrys Hut auf dem Kopf warf ich einen letzten Blick auf unser Haus. Die Zeit hier hatte sich als die beste Zeit meines Lebens entpuppt und ich war dankbar für jede einzelne Minute.

Nur am Happy End könnte man noch etwas herumfeilen.

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