23. November
Knapp eine Woche war vergangen, seit ich in unserem alten Haus gewesen war. Ich verbrachte Stunden damit, die ganzen Audios zu sortieren und das Gesagte herauszuschreiben. Mittlerweile konnte ich das Meiste auswendig. Wieso ich das tat? Dadurch fühlte ich mich den Jungs ein wenig näher, denn ich vermisste sie schrecklich.
Shawn hatte Louis' Skateboard aus noch ungeklärtem Grund mitgenommen und einfach in mein Zimmer gestellt. Ich wusste genau, dass er mich beobachtete, wenn ich auf dem Gehsteig übte. Manchmal verwendete ich auch das Pennyboard, das ich in einer der beiden Kisten gefunden hatte. Janice half mir dabei, die Grundsteine fürs Gitarre spielen zu legen. Wenn ich die Gelegenheit dazu hatte, würde ich Niall all das Gelernte zeigen. Ich fragte mich, wieso ich ihn nicht früher darauf angesprochen hatte, mir etwas beizubringen. Von Harry hatte ich immerhin auch Tipps fürs Singen bekommen.
Ich konnte generell behaupten, eine Menge von den Jungs gelernt zu haben. In jeglicher Art und Weise. Aber vor allem konnte mit ihnen ich eine neue Seite des Lebens kennenlernen. Leider war der Preis, den sie dafür jetzt zahlen mussten, ziemlich hoch.
Natürlich blieb das Ganze nicht versteckt vor der Öffentlichkeit und so konnte ich die Jungs in den Nachrichten oder in der Zeitung bewundern. Mit keiner einzigen Silbe wurde ich erwähnt. Keine Ahnung, wie sie das wieder geschafft hatten. Wenn ich Janice fragen würde, kam sicher wieder irgendein Deal oder eine Abmachung heraus, von der nur bestimmte Leute eine Ahnung hatten.
Trotzdem war ich mir sicher, dass Leroy von allem mitbekommen hatte. Er konnte eins und eins zusammenzählen. Mein Handy lag deshalb ausgeschaltet in einer Schublade, weil ich nicht wirklich darüber reden wollte.
Vor ein paar Tagen hatte ich erfahren, dass der erste Tag der Verhandlung der Jungs auf heute angesetzt wurde. Janice war ziemlich schnell nach dem Frühstück abgehauen und auch Shawn hatte sich nicht wirklich blicken lassen. (Was ich nicht als Problem wertete.)
Ich wusste von früheren Gesprächen mit den Jungs, dass es ziemlich düster für sie aussah. Da konnte ich Nialls Angst nachvollziehen. Und ich wollte sie wenigstens noch einmal sehen, bevor-
Was eigentlich? Bevor sie für immer eingesperrt wurden? Hart schluckte ich, denn jetzt hatte ich Angst.
Trotz schlechter Stimmung schnappte ich mir Schuhe und Jacke, dazu eine Sonnenbrille und Harrys Hut; nur zur Sicherheit. Dann steuerte ich das Gerichtsgebäude via U-Bahn an und war froh, es in der Schule einmal besichtigt zu haben. Es wirkte gigantisch, durch die vielen Marmorsäulen am Eingang. Jeder weitere Schritt die Treppe hinauf kostete mich mehr Mut. Schließlich erreichte ich die enorme Eingangshalle und wurde von turbulentem Gewirre begrüßt. Überall rannten Leute in Anzügen und schicken Hosenanzügen herum, telefonierten oder unterhielten sich.
Wie sollte ich die Jungs jemals finden?
Ich war gerade dabei, mir bei einer Sekretärin Auskunft holen zu wollen, als ich Janice' Haarschopf entdeckte. Sie trug ihre Haare zusammengebunden zu einem Zopf und hastete durch die Menschenmengen Richtung Gerichtsräume. So gut es ging heftete ich mich an ihre Fersen und folgte ihr in gewissem Abstand. Je weiter wir ins Innere des Gebäudekomplexes kamen, desto weniger Leute kreuzten unsere Wege. Janice steuerte zielsicher eine Tür an, zeigte dem Officer vor der Tür einen Ausweis und wurde hineingelassen.
Mist.
Ich erinnerte mich, dass die Nachrichtensprecherin von einer "geschlossenen Verhandlung" gesprochen hatte, also kam da nicht jeder rein. Und ein neugieriges Mädchen schon gar nicht. Ich ließ mich also enttäuscht auf eine freie Sitzgelegenheit sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Wieso stellte ich mir alles immer so einfach vor?
Ich hatte wieder einmal nicht nachgedacht und einfach gehandelt. So wie damals, als ich einfach entschied, bei Dunkelheit nach draußen zu gehen, um geradewegs in ein neues Leben zu purzeln. Dort hatte ich auch nicht nachgedacht.
"Hope? Was machst du denn hier?" Shawns Stimme erschreckte mich, sodass ich einen uncoolen Laut von mir gab.
"Wieso bist du nicht zuhause, Kleine?" Er besaß immer noch die Kaltschnäuzigkeit, mich "Kleine" zu nennen.
"Ich dachte, ich hätte ein Recht, meine Familie zu sehen. Tja, Fehlanzeige."
Shawn musterte mich ausdruckslos, dann meinte er plötzlich: "Komm' mit."
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
"Na komm schon, die Verhandlung läuft schon seit zwei Stunden!" Verwirrt stand ich auf, folgte ihm und konnte es kaum glauben, wie er mich am Officer vorbeischleuste und mir die Tür zum Gerichtssaal aufhielt. Dieser war mäßig besucht, und trotzdem fühlte ich mich ein wenig eingeschüchtert.
Keiner bemerkte unser Eintreffen, denn es wurde gerade eine hitzige Diskussion geführt. An allen Türen standen Beamte, in der Mitte des Raumes befand sich das Richterpult, links daneben saßen die Jungs. Als ich mich neben Shawn niederließ, konnte ich sie genauer betrachten. In Anzug und Krawatte saßen sie wie Hühner auf der Stange nebeneinander. Aber das war es nicht, was mich beunruhigte. Sie sahen schrecklich fertig aus. Vor allem Niall; sein Gesicht war ziemlich blass und er hatte tiefe Augenringe. Auch die anderen wirkten total fertig.
Louis schleuderte dem Richter einige Kraftausdrücke entgegen, ehe die anderen ihn hastig beruhigten. Am Ende des Tisches der Jungs saß ein dicker Kerl, ebenfalls im Anzug, und erinnerte mich stark an einen Pflichtverteidiger.
"Ruhe! Ruhe habe ich gesagt!", fauchte der Richter und klopfte mit seinem Hammer mehrmals auf den Tisch.
"Ich verstehe nur nicht, wieso ich dieganze Zeit Ihre dämlichen Fragen beantworten muss! Die anderen waren auch dabei!Ansonsten schauen Sie sich doch eine Aufzeichnung des Verhörs an!" Louis schien überhaupt keine Lust zu haben, Auskunft zu geben.
"Entschuldigen Sie ihn, Euer Ehren. Er ist ein bisschen reizbar", gab Liam zu und warf Louis einen bösen Blick zu. Dieser schnaubte beleidigt.
"Also noch einmal dieselbe Frage; Mr Payne, wenn Sie so freundlich wären." Der Richter seufzte etwas genervt.
"Der Einbruch ins Museum. Tja, wir erwarteten uns nicht allzu viel davon. Wir wollten lediglich unsere Fähigkeiten austesten. Umso erstaunter war ich, als wirklich alles funktionierte und in den nächsten Tagen keiner etwas davon mitbekommen hatte. Irgendwie hatte sich die Idee, es weiter auszureizen, entwickelt und es ging in die Planungsphase."
Die Jungs erzählten nun abwechselnd (also alle außer Louis) von ihren "Ausflügen" vor meiner Zeit. Ein paar Sachen wusste ich schon, der Rest war mir neu. Wie zum Beispiel die Flucht mit einem Golfkart oder als es einen plötzlichen Stromausfall bei einem Einbruch gab. Ziemlich knappe Sache.
"Was hat es mit dem kleinen Mädchen auf sich?", warf der Staatsanwalt beiläufig ein und ich spitzte die Ohren.
"Oh, Hope?", fragte Liam so überrascht wie möglich, "naja, also sie-"
"Hope war nicht mehr als ein 'Hilfsmittel'. Liam wollte ihre Unschuldsmiene ausnutzen, um nicht aufzufliegen, er-"
Die restlichen Worte von Louis bekam ich nicht mehr mit, denn ich stürmte aus dem Gerichtssaal zu den Toiletten. Das war's! Ich musste von hier verschwinden und zwar sofort. Louis hatte es einfach drauf, alles mit einfachen Worten zu vernichten. Seit Barcelona wusste ich, dass Liam anfangs so dachte, aber er stellte es so hin, als würde Liam immer noch so denken. Und das tat er nicht, oder?
Schnell verschwand ich in einer Kabine und schloss die Tür ab. Ich kämpfte mit den Tränen und schluchzte leise, denn ich hatte keine Lust, meine Situation irgendjemandem erklären zu müssen. Kurz verstummte ich, als ich die Tür aufgehen hörte und hielt kurz den Atem an. Ein paar Minuten wartete ich mucksmäuschenstill, dann ging die Tür erneut auf und zu. Ich beschloss, einfach nach Hause zu gehen. Oder eben zu Janice. Den Blick zu Boden gerichtet verließ ich die Kabine.
Keine Ahnung, wo mein Zuhause jetzt war. Vor ein paar Wochen hätte ich noch auf Irland getippt, aber so sicher war ich mir da nicht mehr. Es war überhaupt fraglich, ob ich meinen Platz im Leben je finden würde, wenn es so weiter-
Abrupt hielten meine Gedanken inne. Ich starrte auf bekannte Schuhspitzen. Das konnte nicht-
Mein Blick wanderte nach oben. Nein.
Vor mir stand Izzy.
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Catch us if you can
Fanfiction"Wovor hast du Angst?" Genau das hatte sich in seinen Augen wiedergespiegelt. Angst. "Das hatten wir bereits, ich-" "Jaja, du nennst es Respekt", winkte ich ab, "Ich dachte, vielleicht hat sich deine Einstellung in der Zwischenzeit geändert ..." Er...