Kapitel 77✅

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15. November

Nachdem Janice die Gitarre gestern einigermaßen gestimmt hatte, saßen wir noch bis spät in die Nacht auf meinem Bett. Sie meinte zwar, sie wäre ein bisschen eingerostet, aber es konnte sich hören lassen. Janice zeigte mir sogar zwei einfache Griffe, die ich jetzt üben konnte, weil ich damit überhaupt nicht klarkam. ("Wohin kommt nochmal der kleine Finger?" - "Den brauchst du gar nicht!") Niall würde nicht schlecht staunen, wenn ich den Griffwechsel einmal draufhatte.

Morgens frühstückten wir gemeinsam und ich konnte von Glück reden, dass Shawn so schnell abdampfte, wie er in der Küche erschien. Wegen eines Anrufs schnappte er sich hastig seine Kaffeetasse und verschwand. Ich verspeiste meine Rühreier und den Toast, dann trank ich den Schwarztee leer. Nie hätte ich gedacht, dass ich so etwas jemals trinken würde, geschweige denn mögen. Ich räumte gerade das Geschirr in die Spüle, als Shawn wieder zurückkam.

"Es gibt ein Problem bei der Durchsuchung. Wir sollten uns das mal ansehen."

"Was für ein Problem?" Janice schaute ihn verwirrt an.

"Hat er mir nicht gesagt. Tyler klang jedoch ziemlich gestresst. Also nichts wie los!" Hektisch stellte er seine Tasse ab und rauschte erneut ab.

"Klingt ernst", meinte Janice mehr zu sich selbst als zu mir, "heute war die Durchsuchung des Hauses der Black Panthers angesetzt. Es scheint ein paar Schwierigkeiten zu geben. Willst du mitkommen?"

Okay, die letzte Frage überraschte mich ein wenig. Ich nickte leicht und folgte ihr dann in die Garderobe. Während der Autofahrt hing Shawn dauerhaft am Handy und ich war froh, dass Janice fuhr. Es fühlte sich komisch an, die Landstraßen entlang zu fahren. Sonst hatte ich das meistens im Mini getan.

Als wir ankamen, stand bereits ein schwarzes Auto in der Einfahrt. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen und mein Magen fühlte ich komisch an, als ich mich der Eingangstür näherte. Shawn öffnete die Haustür und ich trat hinter Janice in unser altes Haus. Völlig sprachlos blieb ich stehen. Das Wohnzimmer war vollkommen leergeräumt. Kein einziges Möbelstück stand im Raum.

Nichts. Nichts war übrig.

Shawn und Janice unterhielten sich mit ihren Kollegen, also seilte ich mich ab und kundschaftete sie anderen Räume aus. Auch dort fand ich gähnende Leere vor. Selbst die Küche war ausgebaut worden. Sogar der Keller war nur ein quadratischer Raum, gefüllt mit Luft. Wie und vor allem warum war nichts mehr übrig? Das Haus war nicht gerade klein und-

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Vermutlich hatte Louis seine Kontakte spielen lassen. Liam wollte keine Beweise hinterlassen, egal um welchen Preis. Als ich im oberen Stock sein Büro erreichte, zögerte ich an der Tür. Keine Ahnung, wieso eigentlich. Das Loch in der Wand war verschwunden. Klar, das Geld hatte er herausgenommen; jetzt war es nutzlos.

Zum Schluss blieb der Raum übrig, in dem ich geschlafen hatte.

Ich rechnete auch dort mit gähnender Leere, doch ich hatte mich getäuscht: in einer Ecke standen die zwei Pappkartons aus dem Keller. Das "H" aus Filzstift auf dem Deckel zeigte mir, dass sie meine Sachen aus dem Waisenhaus beinhalteten. Ich öffnete den ersten Karton und fand den ganzen Krimskrams, der sich in meiner Zeit hier angesammelt hatte, sowie das Zeug aus dem Waisenhaus. Darunter auch meinen originalen Harry Potter Bücher. Liams Ausgaben wurden vermutlich an irgendwen versteigert oder schorten für den Rest ihres Daseins in einer Asservatenkammer.

Ein wenig kramte ich mich durch die Sachen und stieß auf etwas Interessantes. Eigentlich hatte ich gedacht, alle Fotos aus meiner Kindheit in diesem weißen Umschlag verstaut zu haben. Anscheinend hatte ich mich geirrt. Geschickt griff ich nach dem Foto, welches auf dem Boden des Kartons lag. Es handelte sich um ein Gruppenbild aus dem Waisenhaus; zwei Jahre war es vielleicht alt. Das Bild zeigte jene Kinder, die zu dieser Zeit im Haus wohnten. Die meisten davon kannte ich nur oberflächlich, andere waren bereits ausgezogen oder adoptiert worden. Olivia stand vor mir und grinste ihr falsches Lächeln. Mit ihr hatte ich am meisten zu tun gehabt, doch Freunde waren wir nie gewesen.

Ich legte das Bild zurück und machte mich an die zweite Kiste. Dort befanden sich nur Klamotten, die damals nicht in den Koffer gepasst hatten. Ich zog den schwarzen Hoodie, den Harry ausgesucht hatte, aus dem Karton, als mir etwas Metallenes entgegenblitzte. Völlig verblüfft holte ich einen dünnen Laptop aus der Kleiderkiste. Gehörte der Niall?

Wirklich Hoffnung hatte ich nicht, als ich ihn aufklappte und einschalten wollte. Umso erstaunter war ich, dass ich ohne Passwort auf dem Homescreen landete. Der Akku war komischerweise noch halb voll. Es befand sich nur ein einziger Ordner auf dem Desktop, der die Bezeichnung "Hope" trug. Ich öffnete ihn und staunte nicht schlecht: vor mir hatte ich meine eigene, riesige Musikbibliothek. Unzählige Songtitel und Alben von unterschiedlichen Künstlern befanden sich hier. Kopfhörer hatte ich keine hier, also schaltete ich den Laptop ab und verstaute ihn wieder. Dabei entdeckte ich das passende Ladekabel. Gerade noch rechtzeitig packte ich alles zurück in die Kartons, denn die Tür ging auf und Janice kam herein.

"Scheint, als wärst wenigstens du fündig geworden", stellte sie grinsend fest.

"Das sind nur meine Sachen aus dem Waisenhaus", klärte ich sie auf. "Bist du dort auch Skateboard gefahren? Denn in der Garage lag eins."

Ich verneinte; Niall hatte mir ein Pennyboard gekauft.

"Vermutlich ist es das von Louis", meinte ich beiläufig, konnte aber nicht verhindern, dass mir die Bilder unseres ersten Ausflugs in den Kopf schossen. Damals, als Louis es für nötig hielt, mit dem Board sämtliche Geschwindigkeitsrekorde der Welt brechen zu wollen. Prompt lächelte ich.

Janice erklärte mir, dass wir zurückfahren würden und half mir, die Kisten zum Auto zu bringen. Shawn beäugte uns neugierig, sagte jedoch während der gesamten Autofahrt kein Wort dazu. Im Zimmer steckte ich den Laptop an und grübelte, wieso die Jungs mir "nur" Musik hinterlassen hatten. Was machte das für einen Sinn? Ich wollte gerade mit meinen Kopfhörern den ersten Song hören, als ein anderer Ordner mehr Aufmerksamkeit erregte. Dort befanden sich einige Audiodateien.

Okay?

Ich klickte auf die erste Datei und war zum zweiten Mal an diesem Tag sprachlos. Zuerst hörte ich Gemurmel, dann setzte Nialls Stimme ein. Es waren Probeaufnahmen von seinem Song. Unglaublich! Noch mehr überraschten mich aber die anderen Dateien: jeder der Jungs sang entweder einzeln etwas oder sie sangen zusammen. Nicht jeder Ton wurde getroffen und manchmal wurde auch nur geredet, aber das war egal.

Ich hatte endlich einen weiteren Teil der Jungs, den ich immer bei mir tragen konnte; auf meinem MP3-Player.

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