Kapitel 75✅

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12. November

Ich fühlte mich miserabel. Es war, als würde in meinem Leben etwas fehlen. Nein, jemand fehlte. Vier Chaoten. Es war einfach nur unfair. Sie waren weg. Und ich war hier.

Allein.

Zugegeben, ich war nicht wirklich allein. Janice kam regelmäßig ins Zimmer und sah nach mir, bot mir Tee oder Snacks an und verschwand dann für einige Stunden. Trotzdem hatte ich keinen Hunger und beobachtete immer wieder, wie Janice den vollen Teller abholte und mich besorgt musterte. Vermutlich war das irgendeine Masche um mein Vertrauen zu gewinnen. So konnte sie ohne großen Aufwand an Informationen über die Jungs gelangen.

"Seit Monaten jagt die CIA die Black Panthers und jetzt entwischt ihnen das alles entscheidende Bindeglied?" Izzy hatte es mir vor Tagen schon klargemacht, wieso sollte es anders sein?

Schließlich raffte ich mich auf und entschloss, mein neues Zuhause zu erkunden. Nach Liams Aussage würde ich für längere Zeit hierbleiben. Ich trat aus dem Gästezimmer und nahm die Treppe nach unten. Nun stand ich im Wohnzimmer, das sich über zwei Etagen erstreckte. Links befand sich eine hohe Fensterfront und von der Decke baumelte eine Schaukel. Im Apartment war es still; keiner schien zu Hause zu sein.

Ich setzte mich auf die Schaukel und betrachtete das Bücherregal, das sich an der Wand über beide Etagen ragte. Leise prasselte Regen gegen die Fensterfront und mit einem Mal kehrte dieses Gefühl zurück. Ich fühlte mich ausgelaugt und mir war nach Heulen zumute. Die Regentropfen wurden lauter und ich hörte Donnergrollen.

Kurzerhand holte ich mir eine Jacke, Liams Mütze, schnappte mir einen Regenschirm aus der Garderobe und schlüpfte nach draußen. Ich brauchte ein wenig frische Luft. Außerdem musste ich nun sowieso auf Janice warten, weil ich keinen Schlüssel hatte. Ich rannte die Stufen im Treppenhaus beinahe hinunter und atmete dann tief durch.

Das Apartment befand sich in einer ruhigeren Gegend und hatte etwas Friedliches an sich. Der Verkehr war gering und nur wenige Leute befanden sich bei so einem Wetter draußen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und betrachtete die dunklen Wolken. Der Regen befeuchtete mein Gesicht und spendete mir in gewisser Weise Trost.

New York fühlte sich falsch an; alles hier war falsch. Und ungerecht. Liam hatte mir so viel gegeben, und alles was ich konnte, war, seine Pläne durcheinander zu bringen.

Er hatte mir gesagt, dass ich keine Schuld an alldem trug, aber das stimmte nicht. Wie sonst hätte man uns gefunden? Mit einem Mädchen im Teenageralter fiel man um einiges mehr auf. Das bemerkte sogar ein Blinder, dafür brauchte man keine Ausbildung zum Geheimagenten.

Was, wenn man ihnen meinetwegen auf die Schliche gekommen war? Wenn dies der Fall war, konnte ich Liams Meinung nicht teilen. Ich trug genauso viel Verantwortung. Wenn nicht sogar mehr. Vielleicht wären weiterhin unentdeckt, wenn sie mich nie angetroffen hätten? Der Zweifel fraß mich innerlich auf und ich wünschte, ich könnte meine innere Stimme abstellen. Diese ganzen Fragen kreisten in meinem Kopf wie ein Karussell und machten mich noch wahnsinnig.

Ich setzte mich auf die überdachten Stufen vor dem Haus und versuchte, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Schweigend lauschte ich dem Gewitter und beobachtete die Blitze, die den Himmel erhellten. Noch nie war ich so fasziniert von Regen gewesen. Es war, als würde er alles wegwaschen. 

Erst als es dunkel wurde, ließ der Regen nach. In Irland hatte sich das Wetter stündlich umentschieden. Seufzend stand ich auf, um mir die Beine ein wenig zu vertreten. Währenddessen parkte ein Auto neben dem Gehsteig und Janice samt Mr Vollidiot stiegen aus.

"Hope, was machst du hier draußen?"

"Ich brauchte frische Luft", erklärte ich monoton und verschränkte meine Hände vor der Brust.

"Bist du im Regen gewesen? Ist dir kalt?" Besorgt musterte Janice mich. Ich schwieg einfach.

"So wird das nichts. Ab nach oben, Kleine", sprach Shawn streng. Ich war für einen Moment wie vor den Kopf gestoßen. Keiner nannte mich "Kleine" außer Liam, weshalb ich einfach stur stehenblieb und seine Anweisung ignorierte.

"Na wird's bald? Sonst sehen wir uns gezwungen-"

"Was, hm?! Mich doch einzusperren? Na mach doch! Überall ist es besser, als hierzubleiben!", fauchte ich ungehalten. Janice starrte mich geschockt an.

"Der Knast wäre noch zu gut für dich!", schleuderte Shawn mir unbeeindruckt entgegen.

"Shawn, bitte-"

"Nein, sie sieht ja selbst nicht, was sie alles hat." 

Er ist es nicht wert, meinte meine innere Stimme und sie hatte Recht. Zum ersten Mal. Ich schwieg also und wartete, bis die beiden sich endlich in Bewegung setzten und die Tür aufschlossen. Meine Schuhe warf ich achtlos in die Ecke und rannte die Treppe nach oben.

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