Kapitel 36✅

34 2 0
                                    

Der Rest des gestrigen Abends verlief alles andere als gut: Liam nahm mir das echt übel, dass ich verschwunden war, ohne etwas zu sagen. Daher schickte er mich geradewegs ins Bett und verdonnerte Niall dazu, ein Auge auf mich zu werfen. Was total überflüssig war, denn meine Laune war am Boden und die Müdigkeit gab mir den Rest.

Am nächsten Morgen lag ich wach im Bett, da ich einen Racheakt von Niall erwartete. Immerhin hatte ich ihn gestern geduscht. Doch er tat genau das Gegenteil: er schien ganz gelassen und packte sogar meinen Koffer. Die Ruhe vor dem Sturm, wie ich vermutete. Leider raubte mir meine Paranoia noch den letzten Nerv, also achtete ich nicht weiter auf sein Verhalten und schleppte meinen Koffer in den Fahrstuhl.

In der Lobby warteten bereits die anderen und Niall nahm mir meinen Koffer ab, um ihn ins Auto zu bringen. Als ich bemerkte, dass mein Schnürsenkel offen war, bückte ich mich kurz, um ihn zuzubinden. Zufrieden richtete ich mich auf und steuerte die Tür an, als mich eine bekannte Stimme innehalten ließ.

"Warte!", hörte ich Pascal mit seinem starken Akzent rufen. Er grinste, als ich stehen blieb.

"Falls du Seit findest, kannst du misch anrufen." Er drückte mir ein kleines Papier in die Hand.

"Danke, aber-" Ich wollte ihm gerade erklären, dass ich weder eine Nummer, noch ein Telefon besaß, als ich unterbrochen wurde.

"Ruby!", rief Liam.

"Ich muss los." Entschuldigend schaute ich Pascal an.

"Au revoir!", rief er, als ich mich zum Gehen umwandte. Sofort zuckten meine Mundwinkel.

"Wo bleibst du denn?", herrschte Liam mich an und warf die Hände in die Luft. Hastig ließ ich Pascals Zettel in der Hosentasche verschwinden und schwieg zur Antwort.

"Ich habe dich was gefragt!"

"Hör auf, mich anzubrüllen! Das ist total bescheuert!", gab ich patzig zurück. Ein Fehler, wie ich Sekunden später feststellte.

"Ach ja? Dein Verhalten ist auch bescheuert!"

"Das rechtfertigt noch lange nicht, dass du mich anschreien darfst!"

"Ich schreie ÜBERHAUPT NICHT!" Erschrocken machte ich einen Schritt zurück. In Liams Gesicht erkannte ich sofort, dass ihm bewusst war, was er gerade gesagt hatte. Oder gebrüllt. Einige Leute, die vorbeiliefen, drehten sich zu uns um und musterten uns entsetzt.

"Tut mir leid ... Ich, es ist nur-" Er seufzte tief und schaute mich entschuldigend an.

"Es ist schwierig", stellte ich fest.

"Oh ja. Ehe ich mich versehe, befindest du dich in festen Händen." Ich wusste, was er damit sagen wollte.

"Ach James, ich habe Pascal gestern in der Lobby getroffen. Wir kennen uns nicht einmal 24 Stunden."

Als er nichts sagte, setzte ich hinzu: "Außerdem, wer wollte mich ins Nachtleben einführen?" Über Liams Lippen huschte ein Grinsen und ich verbuchte das innerlich als Erfolg.

Im Auto erfuhr ich unser nächstes Reiseziel und machte in Gedanken einen Luftsprung. London.

Es. Ging. Nach. LONDON! Bevor ich wieder losquiekte, kramte ich Pascals Zettel hervor.

"Ruby, la rebelle", stand in großen Buchstaben auf dem kleinen Papier. Pascal hatte eine wirklich schöne Schrift.

"James?", fragte ich nach einiger Zeit.

"Hm?"

"Wie hast du es geschafft, dass die Leute im Waisenhaus nicht misstrauisch werden?" Diese Frage geisterte schon lange in meinem Kopf herum. Liam schien darauf vorbereitet zu sein und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.

"Ich habe ihnen erzählt, dass wir nach Europa ziehen und drei Wochen später hast du ihnen eine Postkarte zur Bestätigung geschickt."

"Was, ich-", doch dann ging mir ein Licht auf. Er hatte die Karte in meinem Namen verschickt!

"Clever! Echt clever ... Wie kommst du auf sowas?"

"Betriebsgeheimnis", erklärte Liam und lächelte verschwörerisch. Ich hörte Nialls Lachen.

"Blöd, dass du nicht die allgemein gültige Ausrede 'Anweisung von Liam' verwenden kannst, was?"

"Tja, meine ist noch besser!" Wir beide stimmten in Nialls Gelächter mit ein.

Nach einigen Stunden parkte Liam das Auto vor einer heruntergekommenen Werkstatt. Harry und Louis waren ebenfalls angekommen und Niall holte die Koffer aus dem Auto. Hier wollte ich eigentlich nicht bleiben, immerhin bröckelte der Putz des Gebäudes und es sah so aus, als hätte es seine besten Tage bereits hinter sich. Zu meiner Erleichterung wollten die Jungs nicht hierbleiben, sondern nur das Auto wechseln, wie ich einige Minuten später erfuhr.

"Und wieso der ganze Aufwand?", fragte ich Liam, als er mit zwei neuen Autoschlüsseln aus der Werkstatt spazierte.

"In England fährt man auf der linken Seite, das bedeutet, die Verkehrsregelung ist gespiegelt."

Links? Wie war das möglich? Ich konnte mir gar nichts darunter vorstellen. Als wir in den kleinen, weißen Flitzer einstiegen, erübrigte sich das ganze Nachdenken: das Lenkrad befand sich wirklich auf der anderen Seite. Trotzdem fuhr das Auto ganz normal, oder es fühlte sich zumindest so an.

Dieses Mal saß Niall hinterm Steuer und Liam starrte aus dem Fenster. Ich widmete mich dem London-Reiseführer, den ich zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. Schon damals war ich fasziniert von der englischen Großstadt und jetzt konnte ich es kaum erwarten, dort anzukommen.

Catch us if you canWo Geschichten leben. Entdecke jetzt