Kapitel 72

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10. November

5:33 Uhr

"Bist du dir sicher, dass wir ... nun ja, also ... nur Freunde sind?"

"Seit wann bist du so-" Mir fiel kein passendes Adjektiv ein, um ihn beschreiben zu können.
"-so unglaublich attraktiv?"

"Du machst mich glücklich", sagte ich und betrachtete den rothaarigen Jungen, der für mein Lächeln verantwortlich war.

Plötzlich verschwanden die Konturen von Leroys Gesicht und das Bild veränderte sich. Ich befand mich an einem düsteren Ort, umgeben von grauen Mauern und hohen Zäunen. Mein Herz klopfte heftig gegen meine Brust. Gesichterlose Gestalten kamen von allen Seiten auf mich zu und drängten mich gegen eine kalte Wand, die ich mit dem Rücken. Nun saß ich in der Falle.

Schweißgebadet schreckte ich hoch. Scheiße, was war das? Mein Herz klopfte immer noch und ich wischte mir über die Stirn. Nun war mein Handrücken voller Schweißperlen.

Das war mit Abstand der schlimmste Albtraum aller Zeiten. Damit setzte ich auch einen Entschluss: ich musste hier weg. Irgendwie. Wenn das nächste Mal die Tür aufging, würde ich verschwinden. Leider löste sich mein Plan in Luft auf, denn alles was ich tat, war erneut einzuschlafen. Als ich wieder aufwachte, schien die Sonne durchs Fenster und das Frühstück stand auf dem Tisch. Mist, ich hatte meine erste Chance verpasst. Wenn man überhaupt von einer Chance reden konnte, denn der Typ hatte mich schneller gepackt als ich meinen Namen sagen konnte.

Ich schnappte mir also das Notizbuch und fing erneut an, hinein zu kritzeln, als das Schloss an der Tür klickte. Vermutlich wollte jemand das Tablett wieder abholen. Ich wusste schließlich nicht, wie spät es war geschweige denn wie lange es schon hier stand.

"Miss Stewards? Mitkommen." Der Beamte war wohl wegen einem anderen Grund gekommen. Ich erhob mich aus dem Bett, Klamotten trug ich sowieso, also ließ ich mir Zeit beim Schuhe anziehen. Immerhin wartete ich seit vier Tagen auf Antworten und hatte bis jetzt keine bekommen. Da konnte der Typ ruhig Geduld aufbringen und auf mich warten. Bevor ich diesem Raum jedoch den Rücken zukehrte, schnappte ich mir das Notizbuch. Dann konnte keiner darin herumschnüffeln, während ich weg war. Auch wenn man nicht wirklich brauchbare Informationen finden würde.

Ich wurde durch lange, schwach beleuchtete Gänge geführt und landete schließlich in einem kleinen Verhörraum, der aussah wie aus einer Krimiserie. Der Beamte schloss die Tür, kurz nachdem er mich hier abgeladen hatte. Nun war ich allein. Ich überlegte weiter, was gleich passieren würde und wem ich Rede und Antwort zu stehen hatte. Vor allem, was sollte ich sagen? Was durfte ich sagen? War dies der Zeitpunkt, indem Leute einen Anwalt verlangten? Die Jungs hatten mir oft klargemacht, dass ich vieles durch kleine Erzählungen durcheinanderbringen konnte. Das wollte ich natürlich nicht.

Die Tür ging auf und zu meiner Überraschung trat Izzy in den Raum.

Noch bevor sie irgendetwas sagen konnte, war ich aufgestanden und auf sie zu gerannt. Sie blockierte meinen Durchgang zur Freiheit. Natürlich begriff sie, was ich vorhatte. Noch bevor ich meinen zweiten Schritt aus der Tür machen konnte, schnappte sie sich geschickt meinen Arm und drehte ihn mir auf den Rücken. Meine Beine gaben nach und ich landete auf den Knien.

"Wohin so eilig?", fragte Izzy sarkastisch und ich stöhnte auf. Mit einer beinahe eleganten Bewegung beförderte sie mich Sekunden später zurück in den kleinen Raum. Sie deutete mir an, mich auf den Stuhl zu setzen und ging dann um mich herum. Etwas Kaltes schloss sich um mein linkes Handgelenk und ich bemerkte, dass sie meine Hand an den Stuhl gefesselt hatte.

"Ich dachte, du wärst vernünftig. Aber wenn du unbedingt Silberschmuck tragen willst, dann halte ich dich nicht davon ab." Sie ließ einen kleinen silbernen Schlüssel in ihre Hosentasche gleiten. Genervt verdrehte ich meine Augen. Ich könnte von jeder anderen Person auf dieser Welt befragt werden, sogar von Mr Vollidiot, aber doch nicht von meiner ehemaligen Freundin. Unglaublich, dass wir und jemals so nahegrstanden hatten. Izzy musterte mich aufmerksam und schien meine Gesichtszüge genauestens zu analysieren.

"Was erwartest du jetzt von mir? Dass ich dir irgendetwas erzähle oder gar die Jungs verrate?", meinte ich und starrte sie durch zusammengekniffene Augen an. Dadurch erweckte ich ihre Aufmerksamkeit, denn sie setzte sich mir gegenüber an den Tisch.

Ich warf alle Ratschläge von Niall über den Haufen und ließ meiner Wut, die sich in den letzten Tagen angestaut hatte, freien Lauf: "Um im Vorhinein einiges klarzustellen: ich tat nie etwas, weil ich gezwungen wurde. Das war alles freiwillig. Ich wurde weder entführt, noch verletzt oder schlecht behandelt. Ich fand lediglich jemanden, der mir zeigte, was Leben eigentlich bedeutet. Ich könnte mir keine bessere Familie vorstellen. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Nein, denn, wenn man von Anfang an keinen hat, der sich um einen kümmert, nimmt man eben das Erstbeste, das einem über den Weg läuft. Klar, sie sind kriminell, das weiß ich, aber sie sind auch meine Familie." Beim letzten Satz musste ich stark mit den Tränen kämpfen. Mann hatte das gutgetan, Izzy alles aus meiner Sicht auf den Tisch zu knallen. Leider hatte sie stärkere Gegenargumente und scheute sich nicht, diese eiskalt abzuarbeiten.

"Dann erzähle ich dir mal, worauf du dich 'freiwillig' eingelassen hast: deine ach so tolle 'Familie' hat sich Zugang zum Ministerium des Staates New York beschafft, geheime Dokumente gestohlen, kopiert, und beinahe weiterverkauft. Das alles hat funktioniert, weil du in der Sicherheitsfirma Informationen gesammelt und weitergegeben hast. Außerdem verschafften sie sich Zugang zum System mithilfe eines USB-Sticks der durch dein Zutun im Serverraum landete. Meine Frage lautet nun: welcher Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, tut so etwas freiwillig?"

Ihre Worte waren wie Schläge in den Magen. Ich kniff die Augen zusammen und schluckte heftig. Jetzt bloß nicht losheulen! Meine Gefühle fuhren gerade Achterbahn und meine Gedanken schlossen sich ebenfalls an. Ich wollte auf ihre Frage nicht antworten, weil ich darauf selbst keine Antwort wusste. So genau hatte mir nie jemand vor Augen geführt, was damals wirklich abgelaufen war. Ich empfand gewisse Reue, aber die ging nur bis zu den Dingen, die ich getan hatte.

Am aller wenigsten aber bereute ich den Schritt ins Ungewisse. Als ich einfach meine Sachen geschnappt hatte und in den Hinterhof verschwunden war. Hätte ich das nicht getan, würde ich nicht hier sitzen, klar. Trotzdem hätte ich etwas verpasst. Und zwar mein Leben. Im Waisenhaus war alles okay. Es könnte schlechter sein, aber auch besser. Dies hatten mir die Jungs gezeigt. Es konnte verdammt nochmal besser sein. Oder schlechter, wie im jetzigen Fall.

"Ich, weil ich endlich meinen Platz im Leben gefunden habe. Und wenn dieser Platz hinter Gittern ist, dann sei es so", zischte ich und fixierte sie mit meinem Blick.

"Hope, ich dachte echt, du wärst anders. Und vor allem nicht so dämlich, dass du auf die Masche dieser Idioten reinfällst."

Izzy hatte doch keine Ahnung.

"Ich frage mich, wieso sie gestern ein Meeting abgehalten haben, und das ohne dich. Du bist ihnen vielleicht doch nicht so wichtig, wie du gedacht hast." Ihre Worte hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Außerdem klang das Gesagte aus ihrem Mund so verachtend. Und welches Meeting? Durften sie überhaupt miteinander reden?

"Ich würde mir nochmal überlegen, ob du diese Leute wirklich als Familie bezeichnen willst-"

"HALT' DOCH EINFACH DEINE KLAPPE!" Ich sah buchstäblich rot. Natürlich konnte ich mich nicht auf sie stürzen, denn die Handschellen verhinderten das. Trotzdem zuckte sie zusammen, als ich ihr meine Worte entgegenschleuderte und aufstand. Sie erkannte den Wink mit dem Zaunpfahl und verschwand aus dem Raum. Endlich.

Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich mir den Kopf über Izzys gesagte Worte zerbrach.

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