Kapitel 109

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„Hast du Geschwister?"
„Wie heißen deine Eltern?"
„Wo bist du geboren?"
...

Es waren Fragen über Fragen. Fragen, die jeder mit Leichtigkeit beantworten konnte und weniger als ein paar andauernde Sekunden darüber nachdachten musste. Es waren Fragen, deren Antworten einem so gut wie jeden Tag über die Lippen glitten und man sich keine größeren Gedanken darüber machte. Fragen,... die eine Person ausmachte...
Nur was ist, wenn man sie nicht beantworten konnte? Wenn man nicht mehr die eigenen Namen seiner Familie wusste, oder sich überhaupt an die Gesichter erinnerte.
Nach sieben Monaten verschwanden alle meine Erinnerung Stück für Stück.
Es lag an diesen Drogen, die er mir in hohen Dosierungen spritzte und mich dann alleine, voller Schmerzen auf den Boden liegen lassen ließ.
Deshalb schrieb ich dieses Buch hier.
Ich habe so Angst... Ich wollte niemanden von Ihnen vergessen. Sie waren das einzige, was mich noch ausmachte und die einzigen, die mir noch Kraft gaben. Statt mir meine Erinnerungen an meiner Familie zu lassen, nahm er die mir ohne zu zögern weg und amüsierte sich daran. Selbst wenn ich mich anstrengte,... ich wusste nichts mehr über sie. Konnte ihre Gesichter nicht mehr vor mir sehen, oder ihr Lachen hören. Nichts. Meine Vergangenheit wurde schwärzer und schwärzer... aber was anderes als weinen und beten, dass es aufhöret, konnte ich nicht....
Ich wollte nichts von früher vergessen...
Keine Ahnung, was ich schon alles vergessen habe, wenn ich doch nicht mal wusste, was ich überhaupt zu vergessen habe, aber eine eines... bzw an eine konnte ich mich noch erinnern. Noch nach langen Wochen... eine sehr lange Zeit sah ich ihr Gesicht vor mir. Das Gesicht, was ich für immer lächeln sehen wollte. Das Gesicht, was ich nur sah, wenn ich meine Augen schloss. Das Gesicht von der Liebe meines Lebens... aber ihren Namen... ihren Namen wusste ich nicht mehr. Ich wusste vieles nicht mehr. Außer, dass ich sie liebte und sie mir wahnsinnig viel bedeutete.
Ihre Augen waren das, was ich wohl nie vergessen werden würde. Sie waren so grün,... so schön und so einzigartig... es war das, was ich als letztes von ihr gesehen habe und um jeden Preis in meiner Erinnerung behalten wollte.
Aber selbst das wurde mir genommen.
...
...
...
...
Ich blättere diese Blätter durch,... lese, was hier geschrieben wurde und erkenne, dass es meine Handschrift ist... aber geschrieben habe ich es nicht. Ein kleines Buch, was wie aus dem Nichts auf meinem Tisch lag und meine Handschrift darin mittrug... Glauben kann ich hier von so gut wie nichts... ich weiß weder wer dieses eine Mädchen mit den grünen Augen ist,... oder wie jemand seinen eigenen Tod vortäuschen konnte,... noch, wer die Hauptperson hier namens Sina ist.
Es ließt sich wie eine traurige Geschichte, die jemand aus Absicht geschrieben hat... aber verbinden tu ich nichts damit. Ich kann hiervon nichts nachvollziehen,... ich weiß nicht, wie sich diese Personen in diesem kleinen Buch sich fühlen oder was genau die Absicht hinter dieser Geschichte ist.
Es ist meine Handschrift, ja... aber nichtsdestotrotz wurde das hier nicht von mir niedergeschrieben. Eine weitere Sache, die ich nicht verstehe und wahrscheinlich nie verstehen werde...
Allerdings bin ich mir unsicher, was ich mit diesem kleinen Buch anstellen soll.
Ich werde es zu Hause nicht aufbewahren,... oder sonst wo. Es ist für jemanden bestimmt ein bedeutendes Buch und... Josh,... er möchte nicht, dass ich lese und... ich werde alles tun um zu verhindern, dass ich ihn auf irgendeiner Weise verärgere.
Also,... werde ich es verstecken. Das perfekte Versteck gibt es zwar nicht,... aber die Chance existiert, dass es für einen längeren Zeitraum nicht entdeckt wird.
Außerdem gehört es jemanden... Gleich vorne wurde fein die Initialen S. S. eingraviert. Ich kenne weder einen Autoren oder eine Buchreihe mit dem Namen S.S. ... Von daher ähnelt es anscheinend nur sehr meiner Handschrift, aber wirklich von mir wurde es anscheinend nicht geschrieben. Vielleicht begegne ich irgendwann den Autor und kann es ihm oder ihr übergeben, solange bewahre ich es sorgfältig in der großen Bücherei auf, an einer Stelle, wo niemand, selbst Dorothea nicht nach Büchern sucht.
Es ist so dünn, so unscheinbar farblos, dass es nicht auffällt und sich perfekt zwischen zwei ähnlich farbigen Büchern verstecken kann. Ein traurige kleine Geschichte, die man keinem wünschte,... seit Tagen frage ich mich, ob sie eventuell doch der Wahrheit entsprechen würde, ob das alles doch so oder ähnlich passiert ist... aber wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas möglich wäre?
Sehr gering... und wenn, dann hätte ich davon gehört, wenn jemand mit angeblich hohen Namen umgekommen ist.
Es war eine erfundene Geschichte, die einem relativ schnell in den Bann zog und zweifeln ließ, ob es doch so etwas wie Gerechtigkeit gab. Ich persönlich würde nicht wissen, wie ich an ihrer Stelle reagiert hätte... Hätte ich es durchhalten können? Ich kann vereinzelt Vorfälle in meinem eigenen derzeitigem Leben wiederfinden,... aber im Vergleich zu dieser Sina habe ich noch Glück von Josh so behandelt zu werden.
Naja,... zumindest konnte ich dieses kleine Buch hier davor bewahren von ihm weggenommen zu werden. Hoffe ich mal, dass ich den Autor hier irgendwann mal treffen werde und es ihm ihr zurückgeben kann. Solange ist es hier in Londons Bibliothek sicher,... ein Buch, dessen Geschichte ich mit Sicherheit nie vergessen werde...

Gefunden und aufbewahrt von Rose Smith.

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