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ANNA

Am nächsten Tag fuhren wir am Nachmittag zu Eve's Haus, das etwas ausserhalb von Helsinki lag. Ich genoss die Fahrt in vollen Zügen und schaute mir die wunderschöne Landschaft an, die draußen an mir vorbeirauschte. Samu beobachtete mich von der Seite, wie ich mich wohlig in den Sitz seines BMWs kuschelte. „Deine Heimat ist wunderschön, mein Schatz", sagte ich glücklich. Er sah mich ein paar sekundenlang an, ohne dabei die Straße aus dem Blick zu verlieren. „Könntest du dir vorstellen, hier mit mir zu leben?" fragte er plötzlich. „Ohhhh...ich....ääähm..." ich stammelte vor mich hin, da dieser Gedanke mich doch ein wenig überrumpelte. Klar hatte ich mich schon gefragt, wie das auf die Dauer so weitergehen sollte mit dem Hin-und herpendeln zwischen Deutschland und Finnland. Das war auf die Dauer jedenfalls keine Lösung, trotzdem wusste ich gerade nicht, was ich so spontan darauf sagen sollte. Samu merkte, wie verwirrt ich war. „Entschuldige, sydämeni, ich wollte dich damit nicht überrumpeln. Es kam einfach so aus mir heraus, ganz spontan. Ich bin gerade so unheimlich glücklich mit dir, weißt du? Dich hier zu haben, an meinem Geburtstag, zusammen mit meiner Familie, das ist einfach das schönste Geschenk für mich." Ich lächelte ihn selig an und ergriff seine Hand. „Ich bin auch so glücklich, dass ich bei dir bin. Ich weiß, dass wir uns irgendwann Gedanken machen müssen, wie das alles weitergeht, aber ich möchte auch nichts überstürzen, verstehst du mich, Samu? Ich müsste alles zuhause aufgeben, meine Freunde, meine Familie, meinen Job. Ich müsste mir hier erstmal einen eigenen Job suchen, was bestimmt nicht so einfach wird, so gut kann ich ja noch kein Finnisch." „Ich weiß, Anna, lass dir Zeit, ich wollte dich auch nicht in die Ecke drängen." Er sah mich liebevoll an.

„Jetzt genießen wir erstmal den heutigen Tag, ok?" Ich atmete erleichtert auf, dass er nicht jetzt und sofort eine Entscheidung von mir erwartete. „Ok", glücklich drückte ich seine Hand.

Ein paar Minuten später waren wir auch schon bei Eve angekommen. Sie öffnete uns freudestrahlend die Tür und drückte ihren Sohn fest an sich. „Hyvää syntymäpäivää mein Schatz. Ich freu mich so, dass ihr da seid." Im Hintergrund kamen schon Samu's Nichten angesprungen und fielen ihm um den Hals. „Onkel Samu, alles Liebe zum Geburtstag...wir haben dich so vermisst." Samu drückte die beiden Mädchen fest und schloss für ein paar Sekunden die Augen. „Ich euch auch meine Schätze. Ich hab euch viel zu lang nicht gesehen." Ich beobachtete ihn und Tränen stiegen mir in die Augen. Er wäre bestimmt ein ganz toller Papa für unser Baby gewesen. Eve schaute mich an, sie musste meine Gedanken erraten haben und drückte mich herzlich an sich. „Hei Anna, hauska tutustua. Ich freu mich, dass du da bist. Kommt doch endlich richtig rein." Sie schob die Haustür zu und geleitete uns ins Wohnzimmer, wo ein Feuer im Kamin brannte. Es war warm und kuschelig und ich fühlte mich sofort wohl. Aus der Küche kam eine hübsche Frau. Sie war blond, schlank und hatte die gleichen Augen wie Samu. Das musste Samu's Schwester sein. Sie drückte ihn fest an sich. „Hei Brüderchen, alles Liebe zum Geburtstag." „Danke, Sanna. Ich möchte dir Anna vorstellen." Sie gab mir freundlich die Hand und zwang sich zu einem Lächeln. Es wirkte sehr gekünstelt. „Tervetuloa", sagte sie nur kurz. Ich schaute sie freundlich an. „Ich freue mich, dich kennen zu lernen." Eve war die Situation sichtlich unangenehm und versuchte, die Stimmung etwas aufzulockern. „Setzt euch doch, Kinder, ich hole schnell den Kaffee aus der Küche." Eilig verschwand sie in Richtung Küche und wir setzten uns an den gedeckten Kaffeetisch.

Fanni und Kaisa plapperten die ganze Zeit fröhlich und erzählten Samu von der Schule und was sie alles so erlebt hatten, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Ich war froh, denn wenn die beiden nicht gewesen wären, hätte wahrscheinlich dank Sanna eine eisig kalte Atmosphäre am Kaffeetisch geherrscht. „Wo ist eigentlich Santtu?" wollte Samu wissen. „Er muss leider arbeiten und kann heute nachmittag nicht kommen", informierte Eve ihn. Plötzlich fragte Fanni: „Onkel Samu, wie hast du Anna eigentlich kennen gelernt?" Ich sah ihn mit großen Augen an. Samu antwortete ganz locker und wahrheitsgemäß. „Wir haben uns zufällig bei einem Konzert, was ich mit der Band in Deutschland gegeben habe, kennen gelernt und auf Anhieb gut verstanden." Er zwinkerte mir zu. Ich atmete erleichtert auf, dass er es so locker formuliert hatte. Aber wie Kinder so sind, sie reden und fragen frei heraus, ohne jemandem irgendetwas Böses zu wollen. „Onkel Samu, stimmt es, dass du einen Unfall hattest in Deutschland und beinahe deine Hand ganz kaputt gewesen wäre?" Ich sah, wie Samu nervös wurde. Niemand war auf diese Frage vorbereitet. Sanna entgleisten alle Gesichtszüge und schaute mich böse an und allmählich verstand ich, warum sie so kühl auf mich reagierte. Kaisa setzte noch einen drauf: „Stimmt es, dass du beinahe gestorben wärst, weil du zu Anna ins Krankenhaus fahren wolltest?" Eve versuchte die Situation zu beruhigen, ohne zu ahnen, dass sie es noch schlimmer machen würde und ermahnte die beiden Mädchen. „Fanni, Kaisa bitte, ich glaube nicht, dass Onkel Samu heute an seinem Geburtstag daran erinnert werden möchte." Ich sah, dass Sanna rot angelaufen war und jetzt war es mit ihrer Beherrschung vorbei. „Aber es stimmt doch, was sie sagen", schrie sie, „wegen Anna wäre Samu beinah gestorben." Sie sah mich hasserfüllt an. „Deinetwegen hätte ich fast meinen Bruder verloren." Tränen liefen ihr die Wangen herunter. 

Samu sprang wütend auf und funkelte seine Schwester an. „Du hast ja keine Ahnung, Sanna, was du da sagst. Hast du eine Ahnung, was Anna alles durchgemacht hat?" Er wurde immer lauter: „Ihr Ex Mann hat sie grün und blau geschlagen und schließlich hat er sie so doll in den Bauch geboxt, dass wir unser Baby verloren haben." Mittlerweile liefen ihm Tränen die Wangen herunter und er schrie Sanna nur noch an: „Sie wusste nicht mehr weiter, weil ich so ein feiges Arschloch war und mit einer anderen rumgevögelt habe. Anna musste das alles mit ansehen. Da hat sie Tabletten genommen, weil sie sich das Leben nehmen wollte und ich danke Gott dafür, dass es nicht geklappt hat. Das war alles meine Schuld und ich hab mich betrunken hinters Steuer gesetzt, weil ich zu ihr ins Krankenhaus fahren wollte und habe die Kontrolle über den Wagen verloren."

Ich saß da und an mir lief alles wie ein Film vorbei. Ich konnte einfach nicht glauben, was hier gerade passierte. Es war eine Katastrophe. Samu hatte in 2 Minuten das ganze letzte Jahr in mir wieder hochgeholt und völlig die Fassung verloren. Eigentlich hatte ich gedacht, wir könnten endlich mit allem abschließen und glücklich in unsere gemeinsame Zukunft starten. Warum tat er mir das an? Ich sprang auf und rannte nach draußen in den Schnee....dort brach ich weinend zusammen und vergrub mein Gesicht in den Händen.

...save me once again... (Anna & Samu Teil 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt