Kapitel 35

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Kapitel 35: 

Ich wandte mich zu Papa und das erste was ich sah, war ein Blick voller Abscheu. Das kannte ich nicht von ihm, ich kannte diesen Blick nicht von ihm! Das tat so weh. So krass weh ..

„Babi une .. (Papa ich ..)“

Ich bekam den Satz nicht zu Ende. Vor allem wusste ich nicht einmal, was ich sagen sollte. Das ganze Wohnzimmer war voll, alle Augen waren auf mich gerichtet. Die Blicke waren allesamt .. vernichtend und vorwurfsvoll. Als hätte ich ein schweres Verbrechen begangen, noch schlimmer, als hätte ich jemanden getötet. Dabei hatte ich mich lediglich verliebt. Ich habe Kaan nur mein Herz geschenkt, in der Hoffnung er könne es heilen. Mich von den Qualen befreien. Das konnte nur er! 

„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, fragte Papa. 
„Ich hab doch nichts getan!“, verteidigte ich mich. 
„Du bist mit einem Türken zusammen!“

Er schrie so laut, dass ich zusammen zuckte und für einen Moment die Augen zu kniff. War das auch wirklich kein Traum? Ein Albtraum, von dem ich gleich aufwachen würde? Diese Stille die gerade herrschte, war so schrecklich. Erneut geisterten mir tausende Stimmen durch den Kopf. Ich war verloren in meinen Gedanken und das Schweigen der anderen machte das ganze noch einen Tick schmerzhafter. Was sollte ich denn darauf antworten? Schließlich hatte Papa recht. Ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als das Weinen eines Baby in meine Ohren Drang. Mein Blick fiel zu Mimoza, die auf der Couch saß und versuchte die kleine Krenare zu beruhigen. Ohne Erfolg.

„Raus hier! Alle! Sofort!“, verlangte Papa.

Wie auf Knopfdruck standen sie alle auf. Bis auf Oma. Sie saß ruhig da und musterte mich. Zurückhaltend, distanziert, prüfend, kritisch. Gott alleine wusste, was gerade in ihr vorging. Ich stand mitten im Wohnzimmer und sah zu, wie sich der Raum leerte. Das alles spielte sich wie in Zeitlupe ab, als habe jemand gerade besonders Spaß, mir beim Leiden zuzusehen. 

„Ich gehe nicht.“, hörte ich Mama sagen. 

Sie stand am Fenster, die Hände vor der Brust verschränkt. Ihr Anblick tat weh, denn die Tränen fielen ihr jetzt schon im Strömen über die Wangen. Das war meine Schuld. Alles war meine Schuld. Verdammte scheiße, ich war für all das hier verantwortlich! 

„Ftyren na more. (Du hast unser Gesicht genommen.)“, sagte Papa. 
„Dafin, wieso leugnest du es nicht? Bitte sag, dass es eine Lüge ist!“, flehte Mama. 
„Hatixhe, sei still!“

Und schon war sie ruhig. Sie starrte zu Boden und schluchzte vor sich hin. 

„Ich .. ich kann es nicht leugnen Mam.“, sagte ich leise. 
„Natürlich nicht. Die Leute reden nicht grundlos.“ 
„Was die Leute reden ist mir egal.“ 
„Mir aber nicht! Mir ist es nicht egal Dafin. Deiner Mutter auch nicht. Deiner Oma auch nicht. Deinen Schwestern auch nicht. Wie soll ich den Leuten jemals wieder ins Gesicht sehen? Habe ich jahrelang hart dafür gearbeitet, dass du einen Türken nimmst? Habe ich Überstunden gemacht um dir das Bestmögliche zu bieten, damit du mir in den Rücken fällst?“

Seine harten Worte trafen mich bis ins Mark und trieben mir Tränen in die Augen. Das schlimme war, dass er so ruhig sprach. Seine normale, ruhige, liebevolle Stimme. Aber wieso fühlte sich dann jedes einzelne Wort, wie eine Ohrfeige an? Wieso fing mein Körper an zu zittern? Wieso schlug mein Herz so rasend schnell und wieso verdammt, fühlte ich mich so schuldig? Dumme Frage. Ich war schuldig! Meine Handtasche fiel neben mir zu Boden, ich versuchte die Fassung zu bewahren. 

„Die Leute reden über dich. Sie reden über Dafina. Über meine Tochter. Sie reden schlimme Dinge, sie benutzten schreckliche Wörter. Sie werden in Zukunft auch über mich reden. Sie werden behaupten, dass Abedin nicht wusste, wie er seine Töchter zu erziehen hat. Sag mir Dafin, was hab ich falsch gemacht bei dir?“

Meine Lippe bebte, mein Inneres kochte und vor mir verschwamm alles. Meine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und ich schaffte es nicht mehr, diese zurück zu halten. Nichts hast du falsch gemacht Papa! Absolut nichts! Du bist der beste Papa, den man sich vorstellen kann. Du bist ein Engel auf Erden. Es liegt nicht an dir Papa. Nein, es liegt an mir. Es liegt an das, was ich erlebt habe. Es liegt an Agron. Es liegt an diesem Monster, der mir meine Kindheit genommen hat. Er hat mein Vertrauen missbraucht. Es ist seine Schuld Papa! Er ist der böse, nicht du, nicht ich, nicht Kaan. Er. Nur er! Ich kann keinen Albaner nehmen Papa. Welcher Albaner nimmt so ein kaputtes Etwas, wie ich es bin? Welcher Albaner akzeptiert meine Narben, ohne Fragen zu stellen? Sag welcher Papa? Keiner. Das weiß ich. Ich weiß es. Aber Kaan ist anders. Er stellt keine Fragen Papa und das ist das wichtigste! Er gibt mir das Gefühl, beschützt zu sein. Er liebt mich, so wie ich bin. Ja, all das lag mir auf der Seele. All das, wollte ich heraus schreien. All das, was mich jahrelang quälte. Aber es kam nichts! Nichts! Meine Kehle war wie zugeschnürt! Ich hasste mich. Ich war so jämmerlich, so schwach, so .. kaputt. 

„Babi, es tut mir leid.“

Das war alles was aus meinen Mund kam. Ein kleines, erbärmliches Schluchzen. Wieso merkte keiner meinen lautlosen Schrei, der in meiner Kehle steckte? 

„Du bist doch meine Tochter Dafin? Nein, du warst es.“, sagte Papa ruhig. 

Ich riss die Augen auf und traute meinen Ohren nicht. Was .. hatte das zu bedeuten? 

„Geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr sehen.“ 
„Babi, lass mich erklären!“, rief ich panisch. 

Er verließ einfach so das Zimmer. Einfach so! Das unaufhörliche, laute Schluchzen von Mama, machte mich fertig. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt! Ich wollte Papa hinterher, aber Oma hielt mich an Handgelenk fest. Sie weinte nicht, sie sah mich einfach nur ausdruckslos an. 

„Wieso Dafin? Gibt es denn keine Albaner auf dieser Welt?“, fragte sie tonlos. 
„Ihr versteht das nicht. Ihr könnt das nicht verstehen.“

Sie ließ mich los und sah enttäuscht an mir vorbei. Ja, ich hatte sie enttäuscht. Alle hatte ich sie enttäuscht. Ich folgte Papa in den Flur. Er streifte sich gerade die Jacke über und ging zur Haustür. 

„Babi, warte!“

Ich stellte mich vor ihm in den Weg und suchte seinen Blick. 

„Babi, wieso lernt ihr ihn nicht kennen, ihr werdet ihn mögen und ..“ 
„Seit still!“, unterbrach er mich lautstark. „Geh zu deinem Türken, für mich bist du gestorben.“ „Das kannst du doch nicht machen!“, schrie ich weinend. 

Ich warf mich vor ihm auf den Boden und umschlang seine Füße mit meinen Armen. Das konnte er nicht machen. Er konnte mich doch nicht verstoßen? Verzweifelt klammerte ich mich an seiner Hose, flehte um Verzeihung und weinte dabei unaufhörlich. Er konnte doch nicht so tun, als sei ich nie gewesen und das nur, weil ich mich verliebt hatte? 

„Es gibt Dinge im Leben, bei denen mal sich entscheiden muss. Du hast deine Wahl bereits getroffen. Es gibt kein zurück mehr. Du bist für mich gestorben.“, flüsterte Papa kaum hörbar. „Abedin! Was redest du da?“, schrie Mama hysterisch. 

Sie kam weinend auf uns zu und rüttelte an Papas Arm. Dessen Miene blieb jedoch weiterhin hart wie Stein. Mama half mir hoch. Jetzt stand ich direkt vor Papa und sah in diese Gefühlslosen Augen. Wieso schlug er mich nicht? Wieso verpasste er mir keine Ohrfeige? Wieso prügelte er nicht auf mich ein? Wieso beleidigte er mich nicht? All das, wäre nicht einmal halb so schlimm gewesen, wie dieser Blick. Dieser kalter Blick, der sagen sollte: Du bist für mich gestorben. Autsch. Verdammt, tat das weh .. wie ein Schlag in die Magengrube, der einem die Luft aus der Lunge presst. Ich wollte nach seinem Arm greifen, doch er schüttelte mich ab. 

„Wenn ich zurück bin, dann bist du verschwunden. Verstanden?“, sagte er tonlos. 

Es war keine Frage, auch keine Bitte, sondern ein Befehl. Ein Befehl, dem ich mich zu beugen hatte. Und dann war er weg. Die Haustür hinter mir schloss sich mit einem dumpfen Geräusch. Klick. So machte nicht nur die Tür, sondern auch mein Inneres. Alles fiel gerade in sich zusammen. Mamas griff um meinen Arm hatte sich gelockert, ich fiel auf die Knie und schluchzte Laut auf. Wenn mir vor ein paar Monaten noch jemand prophezeit hätte, dass es soweit kommen würde, dann hätte ich ihn ausgelacht. Was ich gerade durchlebte, war grausam. Nicht in Worte zu fassen. Bitte sagt mir, wie sollte man das erklären .. wenn man aus der Familie verstoßen wird? Ausgelöscht. Mit einem Satz, mit einem Blick. Hatte ich das verdient? Hatte ich das wirklich verdient!?

„Dafina ..“, hörte ich plötzlich jemanden dicht neben mir rufen. 

Ich hob meinen Kopf. Teuta kniete vor mir und sah mich .. voller Mitleid an. Ich wollte das nicht! Als sie mir hoch helfen wollte, schlug ich ihre Hand weg und rappelte mich selber auf. Schwankend stand ich da, wischte mir einmal mit der Hand über meinen Mund und sah in die Gesichter meiner Schwestern, die sich allesamt im Flur eingefunden hatten. Mama stand neben mir und heulte leise vor sich hin. 

„Wie reizend von euch, einfach daneben zu stehen und nichts zu tun.“, sagte ich. 
„Selber Schuld.“, antwortete Dona. 

So eine kaltschnäuzige Antwort, konnte nur von ihr kommen. Es gab Momente, an denen ich dachte, dass Dona mich hasste. Das war einer davon. Sie konnte so abgebrüht, brutal und erbarmungslos sein. Ohne Rücksicht auf Verluste. Sie schaffte es einen so dumm aussehen zu lassen, dass man sogar selbst daran glaubte, dumm zu sein. Gefühlskalt. Das beschrieb sie ganz gut. Jedoch war sie nicht immer so gewesen... 

„Ja. Ja, vielleicht bin ich selber Schuld .. vielleicht.“, flüsterte ich mehr zu mir selbst. 

Sie warf mir die Handtasche, die ich im Wohnzimmer gelassen hatte, vor die Füße. Ich hob sie wortlos auf und verließ das Haus. Wie in Trance lief ich an Jeton und Gent vorbei, die vor der Tür standen und rauchten. Ohne mich umzudrehen, merkte ich, wie sie ins Haus gingen. Meine Beine bewegten sich automatisch vorwärts. Der schwarze Jeep von Agron stand am Rand der Straße. Es war dunkel, aber das Licht im Wagen war an. Er saß darin und telefonierte. Grinsend. Lachend. Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr! Unausgesprochene Worte, die in meinem Kopf hallten. Ich hielt direkt neben dem Auto, dessen Fenster herunter gekurbelt war...

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt