Kapitel 56

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Kapitel 56 : 

Sie wollte die Wahrheit hören, und ich gab ihr die Wahrheit, denn ich konnte das nicht länger für mich behalten. Ich musste mit jemanden reden, meinen Schmerz teilen, der mich zu ersticken drohte. Ich fing an zu weinen, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. Arjeta stand von ihrem Sessel auf, setzte sich direkt neben mir und umarmte mich von der Seite. 

„Shht, ist ja gut. Ich bin da.“, flüsterte sie. 
„Arjeta, ich kann nicht mehr!“, schluchzte ich verzweifelt. „Ich kann nicht mehr!“
„Beruhige dich. Erzähl mir was passiert ist, wir finden eine Lösung.“

Das war schlimme war, dass es gar keine Lösung gab.

„Ich glaub .. ich glaub, ich wurde vergewaltigt.“, platzte es aus mir heraus. 

Arjeta hatte mir bislang behutsam über den Rücken gestrichen, doch wie auf Knopfdruck hielt sie inne. Eine scheinbar ewig andauernde Stille breitete sich nun aus, die erst durchbrochen wurde, als ich tief einatmen musste, um mein schnelles Herz zu beruhigen. 

„Aber .. wie ..“, stammelte Arjeta. 

Ich spürte wie ihre Hand, die noch immer auf meinem Rücken ruhte, zu zittern begann. 

„Ich weiß es nicht! Ich erinnere mich an nichts mehr, es ist so gut wie alles weg.“
„Soll das etwa heißen ..“
„Ja. Ich glaube, mir wurden KO Tropfen verabreicht. Zumindest hatte ich diese Symptome als ich aufgestanden bin. Mir war so übel und ..“

Ich begann vom neuen zu weinen und diesmal blieb auch Arjeta nicht verschont. So saßen wir nun eine ganze Weile heulend auf der Couch. Arjeta fing sich als erste wieder. 

„Wir müssen zur Polizei und .. du hast geduscht, oder?“

Dumme Frage, das wusste sie auch selbst, denn sofort fing sie an zu fluchen. 

„Verdammt! Scheiße! Du hättest zur Polizei gehen müssen, du ..“

Ruckartig sprang sie auf und griff sich an den Kopf. Sie war außer sich, geschockt, sprachlos. 

„Was sollen wir jetzt machen?“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme, war nicht zu überhören. Ich zuckte mit den Schultern und vergrub das Gesicht in meine Hände. Es gibt nichts schlimmeres, als diese Hilflosigkeit. Zu wissen, dass man nichts tun kann. Dass einem die Hände verbunden sind. Mir fehlte nicht nur meine Erinnerung. Auch Beweise waren keine da. Wobei .. Beweise? In meinem Kopf machte es wieder Klick. Ich musste an das Stück Papier denken, auf dem diese Adresse drauf geschrieben war. Ich stand auf und rannte in Arjetas Schlafzimmer. 

„Was machst du da?“, fragte sie irritiert, während ich in meinem Koffer kramte. 

Ich fand die Mappe, warf die Blätter umher und fand schließlich wonach ich suchte. Völlig außer Atem hielt ich ihr das halbe Blatt hin, aber Arjetas Augen waren voller Entsetzten auf die am Boden verstreuten Blätter gerichtet. Kaans Eroberungen. Aber die waren mir im Moment mehr als egal. 

„Das hier .. wir müssen hier hin.“

Keine Regung von ihr, sie starrte nach wie vor zu Boden. Ich wiederholte meine Worte, diesmal lauter und hatte nun endlich ihre Aufmerksamkeit wieder. 

„Was redest du da Dafina?“
„Ich glaub .. ich glaub, das hängt damit zusammen. Mir blitzen immer wieder Erinnnerungsfetzten von der Nacht auf, aber ich kann das nicht richtig zuordnen. Kaan kniet vor mir, überall Blut, dann dieses Schild und dieser Weg .. ich weiß nicht.“

Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Ich setzte mich aufs Bett und versuchte mich zu beruhigen. Diese innere Unruhe, drohte mich wahnsinnig zu machen. Ich war total aufgewühlt, mein Herz raste, in meinem Kopf drehte sich alles. 

„Das hat irgendwas zu bedeuten, ich muss da hin und der Sache auf den Grund gehen.“, sagte ich. 
„Nehmen wir an, das stimmt was du denkst .. sag mal, bist du total bescheuert?! Wie kannst du auch nur eine Sekunde daran denken, da hinzugehen?“, brüllte sie. 
„Ich muss wissen, was passiert ist! Ich muss wissen, wer mir das angetan hat.“
„Wir gehen zur Polizei!“

Wütend lief sie aus dem Zimmer. Sofort sprang ich auf und ging ihr hinterher. Sie griff nach dem Handy, das auf den Tisch lag, aber ich reagierte schnell und riss es ihr aus der Hand. 

„Bist du verrückt geworden?!“, schrie ich entsetzt. 
„Das selbe könnte ich dich fragen!“ 
„Arjeta ..“, sagte ich nun eine Spur sanfter und steckte das Handy in meine Hosentasche. „Ich hab nichts. Keine Beweise, keinen Täter. Außerdem .. oh Gott, wenn das jemand erfährt.“ 
„Dafina, du wurdest vergewaltigt. Du musst zur Polizei!“
„Nein. Nein, ich schaff das nicht.“ 
„Du kannst doch nicht einfach dahin gehen?“, fragte sie ungläubig. 

Und ob ich konnte. Ich musste! Arjeta wurde wütend, das merkte ich an ihrer Stimme. Sie ließ sich auf die Couch fallen und atmete tief durch. Allein der Gedanken daran, dass jemand davon erfährt, ließ mich zusammen zucken. Papa, Mama .. oh Gott, nein. Ich konnte das nicht. Ich war verzweifelt, deprimiert, am Ende meiner Kräfte! Wie sollte ich nur mit dieser Demütigung leben? Wie sollte ich nur mit dieser Beschmutzung leben? Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Ich seufzte tief und ergriff nach einer halben Ewigkeit wieder das Wort. 

„Ich muss dahin.“, flüsterte ich. 
„Lieber Gott, gib mir Geduld!“, antwortete Arjeta und hob ihre Hände gen Himmel. „Wie wäre es, wenn wir eine Nacht drüber schlafen? Morgen können wir uns dann nochmal unterhalten, wie wir vorgehen.“ 
„Ich werde dahin gehen. Wenn du nicht mitkommst, dann geh ich allein.“

Ich war wild entschlossen. Gleich Morgen früh, würde ich mich auf den Weg machen. Niemand würde mich von meinem Vorhaben abbringen können. Vielleicht erinnere ich mich so, an die Entscheidende Dinge. Arjeta schlug sich kurz die Hände vors Gesicht und stand dann auf. 

„Ich mach uns was zu essen.“, sagte sie und verschwand kurz darauf in die Küche. 

Ich lehnte mich zurück und schloss meine Augen. In mir drinnen kribbelte es. Ich musste es einfach wissen, ich brauchte Antworten auf meine Fragen... 

Während wir aßen erzählte ich Arjeta die Bedeutung dieser Blätter, die in er gelben Mappe waren. Sie hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Fassungslos, ja das war das richtige Wort. Die Story war einfach nur abartig und niveaulos. Wahrscheinlich würde sie mir niemand abkaufen, wäre diese Mappe nicht da. Selbst mit der Mappe .. wer, sagt wer würde mir schon glauben? Mal wieder ging mir diese Frage durch den Kopf .. wie konnte er mir das antun? Wie konnten Menschen zu so etwas in der Lage sein? Ich lachte mich für meine Naivität aus. Skrupellose, Gefühlskalte Menschen. Sie waren zu so etwas imstande. Sie waren sogar imstande, weitaus schlimmerer Dinge zu tun, als Mädchen zu verarschen und ihre Bilder wie Pokale zu sammeln .. ich war der lebende Beweis dafür. 

Ich konnte nicht schlafen und das lag definitiv nicht an der Couch. Gut eine Stunde brauchte ich, um Arjeta davon zu überzeugen, dass ich hier schlafen wollte. Ihr Bett war groß genug für uns beide, aber ich brauchte meine Ruhe. Ich musste Kraft tanken, für den morgigen Tag. Ich richtete mich auf und blieb eine Weile einfach so sitzen. Ich glaube, die meisten würden in meiner Situation einfach zur Polizei gehen. Aber ich konnte es nicht. Ich würde das nicht ertragen. Ich stand auf und wollte ins Bad gehen, hielt im Flur jedoch inne und spitzte die Ohren. Vorsichtig tapste ich vor Arjetas Schlafzimmertür, aus der ihre leise Stimme zu hören war. 

„Nein Kujtim. Ich kann nicht!“

Nach diesen Worten herrschte einen Moment lang Stille. Ein Streit mit Kujtim vielleicht? Mitten in der Nacht? Komisch. In letzter Zeit war ohnehin alles komisch. Ich wollte schon umdrehen und meinen Weg ins Bad fortsetzten, als ich Arjeta fluchen hörte. Es dauerte nur ein paar Sekunden, da wurde aus dem Fluchen, ein Schluchzen und ich zögerte keine Sekunde. Ich trat ein ohne anzuklopfen. Etwas ungeschickt versuchte Arjeta sofort ihre Tränen wegzuwischen. 

„Wieso schläfst du nicht?“, fragte sie mit bebender Stimme. 
„Wieso weinst du?“, ignorierte ich ihre Frage. 

Sie setzte ein Lächeln auf, obwohl ihre Augen von den Tränen noch glasig waren und schob mich anschließend aus dem Zimmer. So wie ich es mit ihr gemacht habe, schoss es mir durch den Kopf. 

„Wir sollten schlafen. Es war ein langer Tag.“

Ja, das war er in der Tat. Ich ließ sie fürs erst in Ruhe und wünschte ihr eine gute Nacht... 

7 Uhr Morgens. Meine Augen brannten, mein Kopf tat weh. Ich war einmal ganz kurz eingenickt, aber das war es mit dem Schlafen auch schon. Arjeta stand bereits in der Küche und machte uns Kaffee. Während wir diesen tranken, machte ich ihr noch einmal deutlich, dass ich dort hin musste. Letztendlich gab sie nach, ein paar Stunden später machten wir uns fertig und stiegen in den Aufzug. Arjeta checkte ihren Pfefferspray und nickte dann. Stellt euch vor, zwei junge Mädchen, bewaffnet mit einem Pfefferspray gegen skrupellose Vergewaltiger. Das war so absurd, dass ich fast schon lachen musste. Vielleicht war es dumm nur zu zweit dahin zu gehen, aber mir blieb keine andere Wahl. 

„Ich hoffe, du bereust das nicht.“, sagte Arjeta leise. 

Ich ignorierte ihre Worte und versuchte mich voll und ganz auf das Kommende zu konzentrieren. Während der ganzen Autofahrt, kam es mir so vor, als ob meine Händen zitterten. Arjeta sagte kein Wort, sie sah einfach nur ausdruckslos aus dem Fenster. Mein Verstand spielte verrückt, als plötzlich dieses Schild vor uns auftauchte. 

„Das ist es!“, rief ich.

Nervös, ängstlich .. und vielleicht auch einen Tick erleichtert. Erleichtert, dass meine Erinnerung mich nicht trog. Ich war hier richtig .. Ich fuhr weiter und ein paar Minuten später, fanden wir uns vor einem großen Haus wieder. Mein Herz raste. Ich schaltete den Motor ab und stieg aus. 

„Arjeta .. kommst du?“, sagte ich, als ich merkte, dass sie noch immer im Wagen saß. 

Irgendwie .. sie wirkte so komisch. Wie in Trance, ihre Augen waren weit aufgerissen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis sie aus dem Wagen stolperte. Vielleicht hatte sie Angst? Mein Gott, ich starb ja selbst gleich vor Angst! Es war dumm von mir gewesen, sie hier mit reinzuziehen. 

„Alles okay.“, antwortete sie auf meine besorgten Blick. 

Sie nahm meine Hand. Gemeinsam gingen wir auf die Haustür zu, die leider verschlossen war. Verflucht! Ich spähte durch die Fenster und sah in ein leeres, trostloses Inneres. Ein heran fahrendes Auto ließ mich herumwirbeln. Arjeta und ich tauschten einen verwirrten Blick. Mergim sprang aus dem Wagen und kam direkt auf uns zu. 

„Was macht ihr hier?“, wollte er wissen. 

Ich weiß nicht genau, was in mich gefahren war, aber ich verspürte einfach diesen Drang ihm um den Hals zu fallen, was ich dann auch tat. Ich fing an zu weinen und klammerte mich an ihm. 

„Alles ist gut, ich bin da.“, sprach er behutsam auf mich ein und strich mir übers Haar. 

Und dann .. ganz plötzlich .. es schoss mir, wie ein Blitz durch den Kopf. Hände, die über meinen Körper fahren. Ein Stöhnen, direkt an meinem Ohr, und dieser Geruch der von ihm ausging .. dieser Geruch, der von Mergim ausging .. ich riss mich von ihm los, taumelte ein paar Schritte nach hinten und starrte ihn entsetzt an. Bitte lieber Gott, lass das nicht wahr sein .. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt