Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Stimme wieder fand. Die Nachricht kam so unerwartet und hatte mir die Sprache verschlagen. Mergim wartete geduldig auf meine Antwort.
„Ich .. das war ..“, stotterte ich.
„Wer?“, fragte Mergim. „Agron?! Bei Gott, ich bring den um!“
Er sprang auf und ich spürte von einer Sekunde zur anderen, wie mein Herzschlag seine Arbeit beschleunigte. Die Hände zu Fäusten geballt ging er auf und ab, während seine Augen vor Hass glühten. Er wirkte angespannt, die Ader am Hals, die man nur sah, wenn er wirklich wütend war, pulsierte. Wenn Agron jetzt hier wäre .. Mergim hätte ihn mit bloßen Hände erwürgt.
„Nein. Das war Kaan. Er steht unten und wartet.“
„Kaan? Noch besser ..“
Er ging schon zur Tür, doch ich hielt ihn rechtzeitig zurück.
„Warte bitte! Wir gehen zusammen runter. Vielleicht hat er es sich anders überlegt. Vielleicht hat er eingesehen, dass es ein Fehler ist zu schweigen und will jetzt zur Polizei.“
„Als ob!“, zischte Mergim.
„Bitte Mergim, reiß dich zusammen!“
Mein Atem ging so schnell. Ich wünschte mir gerade nichts sehnlicher, als dass Kaan wirklich Vernunft angenommen hatte. Mit seinem Geständnis und seiner Aussage, hätten wir Agron in der Hand. Ich klammerte mich an Mergims Arm und stieg mit ihm die Treppen nach unten. Kaan stand vor der Eingangstür, als er sah, dass ich nicht alleine kam, wich er einen Schritt zurück.
„Was willst du hier?“, brüllte Mergim ihn an.
„Mit Dafina reden.“, antwortete er ruhig.
„Wenn du denkst, dass ich euch wieder allein lasse, dann hast du dich geschnitten!“
Kaan steckte die Hände in die Hosentaschen und setzte wieder sein Lächeln auf. Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl dabei...
„Hast du deine Meinung geändert?“, fragte ich geradeheraus.
„Nein, hab ich nicht. Bin gekommen, um zu fragen, ob du deine Meinung geändert hast.“
Seine Antwort verwirrte mich. Ich wusste im ersten Moment nicht, was er damit meinte.
„Ich will dich zurück.“, sagte er schließlich.
Ein Auto raste an uns vorbei. Der Lärm hallte in meinen Ohren wieder und ließ die ganze Situation für einen Augenblick so unwirklich vorkommen.
„Was laberst du für eine scheiße, du elender Bastard!“, schrie Mergim.
Er riss sich von mir los und wollte auf Kaan zugehen, hielt jedoch mitten im Lauf inne. Das alles spielte sich in wenigen Sekunden ab und ich hatte keine Chance um irgendwie zu handeln. Als ich den Grund sah, wieso Mergim so plötzlich stoppte, riss ich die Augen auf. Kaans Hand lag auf einer Waffe, die in seiner Hose steckte. Sein Blick war ruhig und gelassen und das machte mir Angst! Die Waffe war schon halb gezogen und wahrscheinlich würde er keine Sekunde zögern, um sie auch zu benutzten. Panik packte mich. Ich zog Mergim am Ärmel zurück.
„Was soll das werden Kaan?!“, zischte ich mit bebender Stimme.
„Immer mit der Ruhe. Wenn er vernünftig bleibt, dann passiert nichts.“, antwortete er gelassen.
Mergim biss die Zähne zusammen, mein Griff um seinen Arm wurde fester.
„Du hast Zeit gehabt, um zu überlegen und ich ..“
„Überlegen?!“, fiel ich Kaan ins Wort. „Es gibt nichts zum überlegen!“
„Willst du mir sagen, dass der Kuss nichts zu bedeuten hatte?“, sagte er.
Der Kuss .. oh mein Gott. Mergims Körper spannte sich an, vorsichtig löste er sich von meinem Griff. Kaan grinste. Dieses Arschloch sah voller Genugtuung mit an, wie er einen wunden Punkt getroffen hatte .. mit Absicht! Ich hatte vergessen Mergim davon zu erzählen, einfach weil es keine Bedeutung für mich hatte. Aber ich sah, dass es ein Fehler gewesen war ..
„Gimi ..“, flüsterte ich.
Ich wollte nach seiner Hand greifen, doch er trat einen Schritt zur Seite.
„Was meint er damit? Was für ein Kuss?“, fragte er leise.
„Oh, er weiß gar nichts davon?“
„Sei still Kaan!“, fauchte ich.
„Der Kuss, in Berlin. In meinem Wohnzimmer.“, fuhr er mit seinem Lächeln fort.
„Halt verdammt nochmal deine Fresse!“, schrie ich entsetzt. „Wenn du nicht auf der Stelle von hier verschwindest, dann zeig ich dich wegen Belästigung an!“
Ich kochte vor Wut und Kaan musste es gemerkt haben, denn sein Lächeln verschwand. Er hob abwehrend seine Hände und sah mir intensiv in die Augen.
„Verschwinde!“, sagte ich noch einmal.
Er nickte kaum merklich und machte sich dann auf den Weg zu seinem Wagen. Mergim stand regungslos da und sah zu Boden. Ich wartete, bis Kaan mit quietschenden Reifen davon fuhr und näherte mich ihm dann vorsichtig. Meine Hand hob sich um ihn zu berühren, jedoch ließ ich sie niedergeschlagen wieder sinken. Es war meine Schuld, das war klar.
„Mergim ..“, setzte ich an, fand aber nicht die richtigen Worte.
Er atmete einmal laut aus, drehte sich um und ging dann in die Wohnung. Ich folgte ihm. Es herrschte eine unangenehme Stille im Wohnzimmer. Wieso sagte er nichts? Dumme Frage. Ich war an der Reihe mit reden, ich musste erklären.
„Es hatte nichts zu bedeuten, das musst du mir glauben.“, flüsterte ich leise und traute mich dabei nicht ihm in die Augen zu sehen.
„Wenn es nichts zu bedeuten hatte, wieso hast du mir dann nicht davon erzählt?“
„Gimi, ich hab es vergessen!“, antwortete ich.
Es war die Wahrheit! Ich hatte es wirklich vergessen.
„Ich hab ihm eine Ohrfeige verpasst und ihm gesagt, dass er mich nie wieder anfassen soll. Ich hatte an den Tag so viele Dinge im Kopf, so viele schreckliche Dinge, die mein ganzes Denken in Anspruch genommen haben. Als wir in der Wohnung waren, da wollte ich nicht mehr reden. Ich wollte einfach nur in deinen Armen einschlafen ..“
Ich merkte gar nicht, wie mir stumm die Tränen über das Gesicht kullerten. Unfassbar, wie Kaan einfach mal so auftauchen und unserer Beziehung so einen Schlag verpassen konnte. Er wollte mich wieder haben und versucht nun einen Keil zwischen Mergim und mir zu treiben. Aber ich würde das nicht zulassen. Nein, das würde ich nicht zulassen!
„Bitte, du musst mir glauben.“, flüsterte ich verzweifelt.
„Vielleicht solltest du in deine Wohnung gehen, es ist schon spät.“
Seine Antwort war wie eine Ohrfeige und tat schrecklich weh, aber ich verstand ihn trotz allem. Er war verletzt und wollte jetzt allein sein. Ich nickte stumm vor mich hin und erhob mich. Er stand ebenfalls auf und brachte mich bis zur Tür.
„Wo ist deine Kette?“, fragte er.
„Meine was .. ich ..“
Ich tastete nach meiner Halskette, sie hing nicht an meinem Hals. So ein Mist aber auch! Das hatte mir jetzt noch gefehlt. Mergim hatte sie mir zu meinem Geburtstag geschenkt und seit dem trug ich sie ununterbrochen. Einfach nur ärgerlich!
„Hab sie wohl zu Hause liegen lassen.“, antwortete ich.
Liegen lassen war das falsche Wort, freiwillig hätte ich sie nämlich nicht abgenommen. Aber sie musste zu Hause sein, anders konnte ich mir das nicht erklären. Ich wollte Mergim umarmen, ließ es aber dann doch bleiben.
„Gute Nacht.“, sagte er.
Er schloss die Tür, noch bevor ich ihm ebenfalls eine Gute Nacht wünschen konnte...
So ein grauenvoller Abschluss nach einem turbulenten Wochenende. Das hatte ich mir ehrlich gesagt ganz anders vorgestellt. Wie auch immer .. ich lag in meinem Bett und dachte nach. Mergim hatte das Recht sauer auf mich zu sein, ich hätte ihm vom Kuss erzählen sollen. Hinzu kam, dass ich es mit einem Psychopathen zu tun hatte. Man geht schließlich nicht grundlos zur Therapie und macht so ein großes Geheimnis daraus, wenn es nichts zu verbergen gibt. Das war er mir angetan hat, reichte vollkommen aus, um ihn als psychisch krank zu halten. Keine Zweifel ..
Am nächsten Morgen saß ich in der Küche und nippte an meiner Tasse Kaffee. Ich hatte eine unruhige Nacht gehabt und war mehrmals aufgestanden. Mein Kopf drohte zu platzen. Ganz ehrlich, konnte man es mir verübeln? Mein Leben war ein Chaos, aus dem ich keinen Ausweg fand. Mir werden immer wieder neue Hürden gestellt, aber so langsam ging mir die Kraft aus. Ich breitete meine Lehr- und Fallbücher auf den Wohnzimmertisch aus und versuchte zu lernen, um auf andere Gedanken zu kommen. In letzter Zeit hatte ich mein Studium vernachlässigt, zwar nicht mit Absicht, aber ja .. lernen würde mir jetzt sicher nicht schaden.
Gegen Abend hielt ich es nicht länger aus. Mergim hatte sich nicht gemeldet und hatte es wohl auch nicht vor. Ich musste den ersten Schritt tun. Nach der kurzen Dusche, föhnte ich meine Haare trocken, zog mich an und legte ein wenig Make up auf. Anschließend stolzierte ich mit meinen 13 cm Heels entschlossen nach unten zum Wagen und fuhr zu Mergim...
Ding – Dong. Ich nahm tief Luft und wartete darauf, dass Mergim mir öffnete. Nur wenige Sekunden später stand er dann vor mir. Er war frisch geduscht, seine nassen Haaren klebten an seiner Stirn und das sah so verdammt süß aus!
„Hey ..“, sagte er schließlich.
Ohne zu zögern trat ich auf ihn zu und ließ dabei meine Handtasche fallen. Ich umschlang seinen Hals mit meinen Armen, zog ihn an mich und küsste ihn. Mergim schien sichtlich überrumpelt von meinem Verhalten, aber es dauerte nur Sekunden und er erwiderte den Kuss. Nach einer Weile schob er mich sachte zurück, ohne die Hände von meinem Rücken zu nehmen.
„Ich liebe dich. Ich liebe dich Mergim Gashi!“, keuchte ich völlig außer Atem.
Mergims Kinnlade klappte nach unten.
„Ja, ich liebe dich. Und weißt du was?“
Er schüttelte vorsichtig den Kopf.
„Du bist erst der zweite Mann, der diese Worte aus meinem Mund hört.“
Er verzog das Gesicht und sah zu Boden. Ich hatte so den Verdacht, dass er an Kaan dachte.
„Neben Papa.“, fuhr ich lächelnd fort. „Neben Papa, bist du der zweite Mann.“
Seine Augen leuchteten wie die eines Klein Kindes und sein Lächeln war so herzzerreißend süß! Er drückte mich abermals an sich und ich wünschte mir, die Welt würde still stehen. Es war die Wahrheit. Kaan hatte diese Worte nie von mir gehört, das war mir erst neulich aufgefallen und genau jetzt, kannte ich den Grund dafür. Die Gefühle müssen echt sein .. die Worte müssen vom ganzen Herzen kommen, erst dann haben sie die volle Bedeutung!
Wir waren bis spät Nachts wach geblieben. Ich war so heilfroh und erleichtert, dass alles gut war. Als es an der Zeit war ins Bett zu gehen, schlüpfte ich in Mergims Basketballhosen, die mir bis zum Knie gingen und streifte mir sein Muskelshirt über.
„Coole Kombination.“, grinste er.
Ich zog eine Grimasse und warf mich zu ihm ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis wir Arm in Arm einschlummerten ..
Mergim war am nächsten Morgen schon früh wach und hielt mir im Bett eine Tasse Kaffee unter die Nase. Das wundervolle Aroma zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht.
„Pass auf, sonst gewöhne ich mich dran.“, sagte ich.
Er zwinkerte mir zu. Ich nahm die Tasse entgegen, stand auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Im selbem Augenblick klingelte es an der Tür.
„Bestimmt Post, hab mir neulich was bestellt.“, grinste er. „Guckst du kurz?“
Ich nickte, während er sofort wieder in die Küche eilte und das Frühstück vorbereitete. Ich tapste mit der Kaffeetasse barfuß durch den Flur und dachte gar nicht daran, durch den Spion zu gucken. Ein Fehler. Ein großer Fehler ..
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Ihr könnt mir auf Instagram folgen, wenn ihr wollt. Ich werde dort ab und zu Buchtipps und Spruchbilder hochladen :) Heiße: mini_neez
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Lautlose Schreie
General FictionDafina ist angehende Jura Studentin. Sie zieht von Mannheim nach Köln, wo sie an der Seite ihres besten Freundes studieren wird. Sie ist ein ganz normales Mädchen, doch der Schein trügt. Eine Kindheit voller schlimmer Erinnerungen, ein Schwager, der...