Kapitel 39 :
War ich dazu in der Lage, mein jahrelanges Schweigen zu brechen. Ich würde nicht nur das Schweigen, sondern auch meine Schwester brechen. Ich würde das geregelte und glückliche Leben meines Neffen und meiner Nichte zerstören. Ich würde für einen Skandal sorgen. Ich konnte nicht. Nein, ich konnte das einfach nicht. All die Wut, all der Hass auf Agron, aber trotz allem schaffte ich es nicht. Selbst, wenn ich es wollte. Es kam nichts aus meinem Mund. Mama sah mich erwartungsvoll an. Sie wollte einen Grund und den gab ich ihr.
„Ich liebe ihn. Das ist der Grund.“, flüsterte ich.
Und das war ja nicht einmal gelogen, denn so war es nun mal. Ich liebte Kaan. Ich hatte lediglich die anderen Gründe geheim gehalten. Es war besser so. Für Teuta. Für mich. Für alle. Mama hatte empört die Augen aufgerissen, als hätte ich gerade etwas schockierendes gesagt.
„Hast du etwas dummes gemacht, dass du bereust?“, wollte sie plötzlich wissen.
„Nein.“
„Hast du mit ihm geschlafen?“
„Mam, ich ..“
„Hat er dich zu irgendwas gezwungen?“
„Mam, bitte ..“
„Du brauchst keine Angst haben. Wir zeigen ihn an und ..“
„Mam!“, fiel ich ihr lautstark ins Wort. „Ich bin noch Jungfrau!“
„Dafina, sag mir bitte die Wahrheit! Du bist mein Kind, du würdest mir das nicht grundlos antun.“
Sie schrie, sie weinte und griff sich an den Kopf. Und zur gleichen Zeit, brach mein Herz, das in den letzten Jahren so viel standgehalten hatte, in tausend Stücke. Die Schuldgefühle schlichen sich wieder ein. Die Stimmen in meinem Kopf, die mir zu flüsterten, dass ich für ihre Tränen verantwortlich war, wurden lauter. Und da war ein Teil meines Gehirnes, das den Stimmen, zu meinem Entsetzten, Recht gaben. Teuta stand hilflos da und starrte zu Boden. Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen, oder tun sollte. Ich stand richtig wackelig auf den Beinen, denn meine Knie drohten nachzugeben. Die Stille, die sich über das Wohnzimmer gelegt hatte, war nur von kurzer Dauer.
„Dafina, ich warte.“, sagte Mama ungeduldig.
„Mam, ich liebe ihn! Ich liebe diesen Mann und er liebt mich ..“
„Du begehst einen Fehler, der dich ins Verderben stürzen wird, ich sehe es schon kommen!“
Sie fing an sich die Schläfen zu massieren und klopfte dabei mit dem Fuß auf den Boden. Wie vertraut mir diese Dinge waren .. das tat sie immer, wenn sie nervös war und nicht weiter wusste.
„Ich weiß nicht ..“, setzte ich leise an. „Ich weiß nicht, ob es ein Fehler ist. Wieso kann man nicht einfach für sein Kind da sein, in guten wie in schlechten Zeiten?“
„So einfach ist das nicht Dafina! Ich kenne dich doch, du würdest das nicht..“
Stopp! Ich hob meine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen und drehte mich dann um. Es reichte! Ich kenne dich, ich kenne dich, ich kenne dich. Immer die selben Worte. Einen scheiß kennt ihr mich. Niemand kennt mich. Verdammt, ich kannte mich selbst nicht!
„Wenn du jetzt gehst Dafin, dann musst du mit den Konsequenzen leben. Ich sehe keinen Sinn darin, mich weiterhin mit deinem Vater zu streiten, wenn du mir nicht sagst, was Sache ist.“, sagte Mama.
Ihre Stimme klang erschreckend ruhig und gefasst, und hallte wie ein Echo in meinen Ohren nach. Ich umschloss mit einer Hand meinen Mund, um den Schluchzer zu unterdrücken, der sich von meinem Inneren nach oben gekämpft hatte.
Ich sitze in Flamurs Kinderzimmer, bin umgeben von lauter blauer Sachen und starre auf diese Tür. Ich weiß, dass er gleich kommt. Flamur schläft und Teuta liegt im Schlafzimmer. Sie braucht ein bisschen Ruhe, da die Geburt sehr anstrengend gewesen ist. Leise stehe ich auf und nähere mich dem Kinderbett. Wie süß er da liegt und wie hübsch er ist! Ich hab so große Angst, dass ihm etwas passiert. Er ist doch noch so klein. Ich berühre seine kleine Faust und die kleine Hand umschließt meinen Zeigefinger. Ich lächle, aber leider nur für ein paar Sekunden, denn Schritte nähern sich dem Kinderzimmer. Seine Schritte. Vorsichtig geht die Tür auf. Jetzt ist er hier. Es ist Sonntag, ich muss Morgen in die Schule und Agron fährt mich jetzt nach Hause. Ich weiß, was jetzt gleich passieren wird, wenn wir im Auto sind und ich hab Angst davor. Riesen große Angst sogar. Meine Knie fangen an zu zittern und mein Herz. Es schlägt so schnell, ich glaube es schlägt zu schnell. Er flüstert meinen Namen. Ich schließe die Augen und bete. Aber es ist zwecklos, denn kurz darauf liegt seine Hand auf meiner Schulter. -
Entsetzt riss ich die Augen auf. Eine Hand ruhte auf meiner Schulter und ich nahm Teutas Stimme wahr, doch sie klang, als käme sie aus weiter Ferne. Und dann, bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, rannte ich los. Ich stürmte aus dem Zimmer, sprang die Treppen förmlich herunter und rannte zur Haustür. Weg von hier, von meinen Erinnerungen, von meinem Schmerz. Weg von der Illusion, es könne irgendwann ein Ende haben. Er hatte mich zum Schweigen verurteilt, für immer. Auch wenn ich es nie wollte, er hatte es geschafft, meine Seele zu manipulieren. Über all die Jahre! Ich hasste ihn so sehr! Er hatte alles in mir zerstört. Wenn ich jetzt aber die anderen damit zerstören würde, dann wäre ich nicht viel besser als er. Ich konnte das nicht! Ich riss die Haustür auf, ignorierte Teutas Rufe hinter mir und rannte weiter. Selbst als ich das Eingangstor erreicht hatte, kam es nicht in Frage zu stoppen. Mit der Ausdauer eines Marathonläufers, stürmte ich die Straße entlang, die hier und da von Laternen beleuchtet wurde. Kalter Wind wehte mir ins Gesicht und ließ mein offenes Haar nach hinten flattern. Mein Zeitgefühl schwand mir dahin, ich kann nicht sagen, wie lange ich so gerannt war. Irgendwann erreichte ich eine Kreuzung. Unerwartet trat ich auf einen Stein. Völlig außer Atem hielt ich mich an der erst besten Stange fest, um mein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ich glitt an ihr herunter und fand neben meiner Tasche Platz, die schon auf dem Boden lag. Während ich so auf dem kalten Beton saß, sog ich gierig den Sauerstoff in mir auf. Verrückte Mischung, dieses Luft schnappen und nebenbei wie ein Schlosshund weinen. Ich zog die Beine ein, bettete meinen Kopf auf die Knie und schloss meine Augen, um den Tränenfluss zu stoppen. Autos fuhren an mir vorbei, deren Lichter mir unangenehm waren. Als würden sie mit Absicht auf mir zeigen und mich, dieses erbärmliche, schwache Stück, verhöhnen. Mich auslachen, genau so, wie es Agron immer machte.
„Alles okay bei dir?“
Die tiefe Stimme, riss mich aus meinen Gedanken, mein Kopf fuhr in die Höhe. Vor mir stand ein Junge, nicht viel älter als ich, mit einem Mädchen an der Hand und starrten an mir herab. Klar, ich mein, ein junges Mädchen, das auf dem Boden sitzt und heult. Natürlich ist alles okay. Neugierig musterten sie mich und schienen auf eine Antwort von mir zu warten. Ich nickte, und als die Ampel auf grün sprang, hatten die beiden schnell das Interesse verloren. Besser so. Verschwinden sollen sie. Alle! Ohne Ausnahme! Ich rappelte mich hoch und strich meine Klamotten glatt. Mir war kalt, meine Augen brannten, meine Nase lief und ich hatte nicht einmal ein verdammtes Taschentuch bei mir! Aber das war schnell vergessen, denn als ich mich schniefend in Bewegung setzte, schoss ein bohrender Schmerz in meine Beine. Klasse! Echt grandios, das hatte mir gerade noch gefehlt. Meine Füße fühlten sich an, als würde Blei an ihnen hängen. Nur schleppend kam ich voran. Mein Hals war ausgetrocknet, ich wollte Wasser, hatte aber keines. Ich ließ meinen Blick durch die dunkle Gegend schweifen. Weder ein Geschäft, noch ein Kiosk war hier zu sehen. Noch dazu hatte ich die Orientierung verloren, es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich ein Taxi gefunden hatte.
„Wohin soll es gehen?“, fragte der Fahrer mich.
„Nach Hause.“
Er drehte sich zu mir um und sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Ich war so neben der Spur, dass ich erst jetzt merkte, wie absurd meine Antwort war. Nach Hause. Ich hatte nicht mal mehr ein zu Hause! Diese schmerzhafte Realität, knallte mit voller Wucht in mein Bewusstsein und ich hatte unglaubliche Mühe, jetzt nicht wieder in Tränen auszubrechen.
„Na, wird es bald?“, pfiff der Taxifahrer.
Er dachte sicher, ich wolle ihn verarschen. Kleinlaut entschuldigte ich mich und nannte ihn ein Hotel. Um die Uhrzeit würde keine Bahn mehr nach Köln fahren. Taxi bis zur Wohnung, kam nicht in Frage, weil es viel zu teuer war. Natürlich. Ich könnte Kaan, oder sogar Mergim anrufen. Beide würden ohne zu Zögern herkommen und mich abholen. Aber ich wollte nicht. Ich wollte allein sein. Ich musste gerade allein mit meinen Schmerzen fertig werden, so wie schon oft.
Im Hotelzimmer, wusch ich mir erst mal das Gesicht. Das warme Wasser tat zwar gut, jedoch änderte es mein schreckliches Spiegelbild nicht. Ich nahm den Blick von mir und legte mich sofort ins Bett. Obwohl ich dachte, dass mir eine schlaflose Nacht bevorstand, fielen meine Augen zu. Ich war einfach zu erschöpft, sowohl seelisch, als auch körperlich...
Am nächsten Morgen nahm ich die erste Bahn zurück. Irgendwann in der Nacht, hatte mein Akku schlapp gemacht, vorüber ich dankbar war. Ich weiß, dass es auch egoistisch von mir war. Es gab schließlich Leute, die sich noch Sorgen um mich machten. Kaan, Mergim und Arjeta, die total ausrastete, als ich gegen 11 Uhr vor ihrer Tür stand.
„Willst du mich umbringen Mädchen?!“
„Tut mir leid Arjet, ich hätte ..“
„Ja, hättest du Dafina! Du hättest Bescheid geben sollen!“
Ich fing an zu weinen und warf mich in ihre Arme.
„Hatte Angst, dass dir was passiert ist.“, sagte sie nun eine Spur sanfter.
Sie zog mich in ihr Wohnzimmer, wo ich ihr alles erzählte. Ununterbrochen hielt sie dabei meine Hand fest und hörte mir aufmerksam zu. Auch sie sagte, dass meine Eltern Zeit brauchten. Jedoch hatte ich irgendwie die Hoffnung verloren. Ich kramte in meiner Tasche nach einer Zigarette und lehnte mich aus dem Fenster, während Arjeta uns Kaffee machte. Ich beobachte die Menschen, die von hier oben, wie Ameisen aussahen. Kräftig zog ich an meiner Zigarette, ließ den Qualm eine Weile in meiner Lunge verweilen und pustete ihn dann langsam aus. Nikotin strömte durch meinen Körper und es wirkte beruhigend auf mich. Meine Augen blieben plötzlich auf eine Frau haften, die ein auffallend rotes Kleid trug, das man selbst von hier oben deutlich erkannte. Ihre Blonden Haare, stachen ebenfalls hervor .. Ein entsetzlicher Gedanke, schlich sich in meinen Kopf ..
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Lautlose Schreie
General FictionDafina ist angehende Jura Studentin. Sie zieht von Mannheim nach Köln, wo sie an der Seite ihres besten Freundes studieren wird. Sie ist ein ganz normales Mädchen, doch der Schein trügt. Eine Kindheit voller schlimmer Erinnerungen, ein Schwager, der...