Epilog

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Mit der Bleistiftspitze tippe ich immer und immer wieder auf den Tisch. Tick — Tick — Tick. Für die meisten ist das vielleicht ein Nerventötendes Geräusch. Nein, nicht vielleicht. Ich weiß es. Ich sehe das an ihren Blicken, die auch heute wieder ohne Ausnahme auf mich gerichtet sind. Tick — Tick — Tick. Mir dagegen hilft es jedes mal aufs Neue mich zu sammeln und Kraft zu tanken, für die Kommenden Worte. Es ist mittlerweile zu einer Art Routine geworden. Mein Markenzeichen, wie Papa es zu nennen pflegt. Sorgfältig lege ich nun den Bleistift neben die Akte, die geöffnet vor mir liegt. Ich fahre einmal mit der Hand darüber und schiebe gleichzeitig meinen Stuhl zurück. Anschließend nehme ich die Akte in die Hände und stehe auf, während alle anderen es mir gleich tun. Ein letzter tiefer Atemzug .. 

„Im Namen des Volkes verkünde ich folgendes Urteil. Der Angeklagte ist schuldig .." 

Ich spreche die dazugehörigen Paragraphen wie Trance herunter und sehe dabei unverwandt dem Angeklagten ins Gesicht. Erst seit knapp einem Jahr habe ich angefangen richtig zu arbeiten und doch habe ich schon so vieles gesehen. Es ist nicht in Worte zu fassen .. das Böse, kennt keine Grenzen. Man muss keine Richterin sein, um das zu erkennen. Man muss kein Opfer sein, um diese Realität zu akzeptieren. Es reicht schon, wenn man die Rosarote Brille absetzt und richtig hinsieht. So wirklich richtig hinsieht. Denn das tun die meisten überhaupt nicht. Sie sehen weg. Vielleicht aus Angst. Vielleicht aus Egoismus. Ich weiß nicht, was in diesen Menschen vorgeht, aber ich weiß, dass es falsch ist wegzusehen. Ich weiß, dass es falsch ist zu schweigen .. ich weiß es am besten. 

„ .. und wird deshalb zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt." 

Ohne Bewährung. Höchststrafe für dieses Monster, das sich Mensch nennt. Ein 36 Jähriger, der auf den ersten Blick wie einer meiner netten, hilfsbereiten Nachbarn wirkt. Ein sympathischer Blick, ein charmantes Lächeln. Hinter dieser Fassade verbirgt sich jedoch jemand, der eine 17 Jährige mehrfach vergewaltigt und schließlich auch geschwängert hat. Das Arme Mädchen ist psychisch am Ende .. Aus der Anklagebank werden nun Proteste laut, auch der Angeklagte erhebt sich und flucht wild herum. Von wegen er ist unschuldig. Von wegen sie habe es auch gewollt. Es ist mein erster Vergewaltigungsfall und ich kann voller Stolz sagen, dass mein Urteil in keinster Weise durch meine Vergangenheit beeinflusst wurde. Dieser Mann ist schuldig. Die Beweise sprechen eindeutig gegen ihn. Er hat das Leben eines jungen Mädchens zerstört, die nun ein Kind im Bauch trägt. Er ht diese Strafe verdient! Wut und Hass steigt in mir auf und ich verlasse eilig das Gerichtssaal. Ich flüchte den Korridor entlang, erreiche mein Büro und schließe schwer atmend ab. Erschöpft lehne ich mich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. 

„Alles richtig gemacht .. du hast alles richtig gemacht.", murmle ich vor mich hin. 

Kurz darauf sinke ich in meinem Stuhl zusammen und fühle mich plötzlich so müde und ausgepowert. So leer .. und kraftlos. Eigentlich muss ich glücklich sein. Glücklich und zufrieden, nach einem erfolgreichen Fall. Der Böse sitzt bald in hinter Gittern. Alles gut. Aber gerade das war es ja. Nichts war gut. Gerechtigkeit für die Opfer? Wenigstens das. Aber es ist keine Erlösung für sie und erst recht keine Wiedergutmachung. Die Verletzten bleiben verletzt. Die Verhöhnten bleiben verhöhnt. Die Erniedrigten bleiben erniedrigt. Ein Leben lang. Auch wenn die gefangen wurden, die für ihren Leid verantwortlich sind. Es bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass das Leiden nachlässt, schwächer wird. Dass es verblasst. Dass irgendwann das Leben wieder seinen Lauf nimmt und bessere Zeiten kommen. So wie bei mir. Ich vermeide es länger an das Mädchen zu denken und mache mich an die Arbeit... Emotionale Verbindungen zu meinen Fällen lasse ich nicht zu, es ist besser so. Andere Gedanken sind jetzt durchaus willkommen. 



Nach ein paar Stunden bin ich endlich fertig. Total müde stehe ich auf, entledige meine Robe und hänge sie auf. Ich starre eine Weile in den großen Spiegel, der hier hängt und kann mir ein Lächeln schließlich nicht verkneifen. Mein Kostüm sitzt eng um meinen Körper und ich komme mir schlagartig wie die jüngere Ausgabe meiner Schwiegermutter vor. Nur mit schwarzen, statt roten Haaren. Nach kleiner Anlaufschwäche verstanden wir uns prächtig. Man merkt dieser Frau an, dass das Glück ihrer Kinder an erster Stelle steht. Ich nenne sie mit vollem Herzen Mutter und das macht sie glücklich. Es macht sie stolz, ich mache sie stolz. Das sagt sie mir immer wieder. Natürlich kann sie meiner Mama nicht das Wasser reichen, aber das will sie auch gar nicht. Sie weiß, dass sie einen festen Platz in meinem Herzen hat. Sie weiß, dass ich ihren Sohn glücklich mache, genauso, wie er mich glücklich macht und das reicht ihr vollkommen. Ich habe ein Lächeln im Gesicht, als es an der Tür klopft. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt