Kapitel 1

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Kapitel 1 : 



Seit gut 30 Minuten saß ich schon am Rand meines Bettes und starrte mal wieder auf den Zettel in meinen Händen. Zeile für Zeile ging ich ihn durch. Jedes einzelne Wort brannte sich in meinen Kopf. Seit Tagen ging das schon so, mittlerweile kannte ich ihn schon in und auswendig. Ich hatte es geschafft! Ohne Hilfe! Wochenlang hoffen und bangen. Aber endlich hielt ich die Zusage der Uni in meinen Händen. Mein Abi hatte ich mit Bravour gemeistert, auch wenn viele an mir gezweifelt hatten. Besonders mein Vater. 
'Vielleicht ist studieren für eine Rebellin wie dich nichts.'
Ich erinnerte mich an seine Worte und verspürte eine Art Genugtuung, auch wenn ich wusste, dass er es nicht böse gemeint hatte. Ich war schließlich sein kleiner Liebling. Die Jüngste, das Küken, das nun von zu Hause auszieht. Ich durfte an einer besten Juristischen Fakultät in ganz Deutschland studieren. In Köln! Ich hatte gebüffelt wie ein Tier, weil ich es allen zeigen wollte und ich hatte es geschafft! Allen Pessimisten hatte ich die Mäuler gestopft! Und das war erst der Anfang. Es würde ein langer Weg werden, aber ich hatte mir fest vorgenommen es durchzuziehen. In ein paar Jahren bin ich eine erfolgreiche Richterin. Ich würde Menschen bestrafen, die es verdient hatten bestraft zu werden. Menschen wie ihn .. Das war mein Ziel! 

Meine drei Schwestern, die allesamt älter als ich waren, hatten studiert und von mir wurde schon immer erwartet, dass ich in ihre Fußstapfen trat. Das Wort Rebellin beschrieb mich eigentlich recht gut. Ich hatte meinen eigenen Kopf und ließ mir nichts vorschreiben. Als jüngste war ich auch ein wenig verzogen, wenn ich ehrlich sein sollte. Mein Papa behandelte mich wie eine Prinzessin, las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Er war nicht nur mein Vater, sondern auch eine Art Kumpel. Ich galt als lebensfrohes, junges Mädchen, das viel lacht. Ein Party Girl war ich zwar nicht, aber ab und zu Feiern zu gehen, war auch bei mir drin. Alkohol gehört bei sowas dazu, aber ich wusste wo die Grenze war. Zigaretten dagegen hasste ich, aber wenn ich mit den Nerven am Ende war, griff ich gelegentlich zu einer. Meinen seelisches Zustand jedoch kannte keiner. Absolut keiner! Weder meine Freundinnen, noch mein bester Freund, vor dem ich normalerweise nichts geheim hielt. Von klein aus war ich diesem ungeheurem Druck ausgesetzt, alles richtig zu machen. Ich wurde nicht gefragt, was ich wollte. Das stand alles schon längst fest. Ich bin den Weg gegangen, der mir vorgelegt wurde. Aber das war es nicht, was mich kaputt gemacht hatte...

Ich drückte meine Lider zusammen und versuchte den Gedanken zu verdrängen, der sich wie ein Lauffeuer in meinen Kopf ausbreitete. Sein hässliches Grinsen. Sein heißer Atem. Seine Hände, an meinen Oberschenkeln. An meinen Brüsten. An meinem Hals. Überall!

'Ich tu dir nicht weh. Wir wollen nur ein bisschen spielen. Es gefällt dir doch, oder?' 

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schlug mir damit auf die Schläfen, während ich meinen Körper hin und her wippte. Ich wollte diese Stimme nicht hören, ich wollte nicht! Das war noch schlimmer als in meinen Albträumen, die mich immer mal wieder heimsuchten. Meine Tagträume, meine Sprünge in die Vergangenheit. Die Erinnerungen, an die dunklen Momente. Mein Körper fing an zu zittern, als mir bewusst wurde, dass ich ihn heute wieder sehen musste. 2 Monate hatte ich es geschafft ihm aus dem Weg zu gehen, aber heute Abend war das unmöglich. 

„Nein. Nein. Nein.“

Ein verzweifelter Schrei, der sich jedes mal in ein hilfloses Flüstern verwandelte, sobald er meine Kehle erreichte. Ich hatte so lange gegen diesen Abend protestiert, aber letztendlich war es zwecklos. Papa meinte, mein Abgang müsse gefeiert werden, schließlich war es bei uns nicht üblich, dass die Tochter auszieht. Von Mannheim nach Köln. Ich hätte auch hier in Mannheim studieren können. Aber ich wollte weg von hier. Einfach nur weg! 

„Dafina?“ 

Es war besser so, ich wusste es. Vielleicht war das endlich meine Chance, das ganze hinter mir zu lassen. Hier waren die Erinnerungen zu intensiv, außerdem war es einfach nur der Horror ihn so oft sehen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, dass er jede Gelegenheit nutzte um mich anzufassen. Harmlose Berührungen, die mich trotzdem fertig machten. Unsere Treffen waren unvermeidbar, auch in Zukunft würde sich nichts daran ändern. 

„Dafina! Sie sind bald da!“ 

Ängstlich zuckte ich zusammen. Mamas laute Stimme, die vom Flur kam, riss mich aus meinen schmerzhaften Gedanken. Schnell stand ich auf und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. 

„Erdha. (Ich komme.)“, schrie ich durch die geschlossene Zimmertür. 

Keine Tränen. Gut so. Mittlerweile hatte ich das echt im Griff und darauf war ich auch irgendwie stolz. Schauspielern gehörte zu meinen Stärken. Hatte sich wohl bezahlt gemacht, dass ich damals in der Theatergruppe war. Aber es war schon ein hartes Stück Arbeit gewesen, immer so zu tun, als sei alles in Ordnung. Jahrelange Übung hatten dafür gesorgt, dass man mein gespieltes Lächeln, von dem echten nicht unterscheiden konnte. Mein Spiegel half mir dabei. Ich tuschte noch schnell meine Wimpern nach, zupfte meine Klamotten zurecht und schloss dann die Tür auf. Tief nahm ich Luft und machte mich auf den kommenden Abend bereit, der sich als sehr qualvoll herausstellen sollte...

Ich saß neben meiner Oma auf der Couch und kuschelte mich in ihre Arme, während wir warteten. Ich liebte diese Frau! An meinen Opa konnte ich mich nicht mehr erinnern, ich war noch sehr klein, als er von uns gegangen war. Nana Shkurt (Mutter Shkurt), wie ich sie nannte, war für ihre 70 Jahre noch ziemlich flott auf den Beinen, auch ihre Schlagfertigkeit hatte sie nicht verloren. Mein Papa war 52, und der älteste der Familie. Als meine Onkels vorgeschlagen hatten, dass Oma zu ihnen ziehen könne, kam das natürlich überhaupt nicht in Frage! Sie gehörte hier her. 

„Nana Shkurt mos u merzit ani? (Sei nicht traurig, okay?) Ich komme euch ganz oft besuchen.“, sagte ich zu ihr, hob dabei meinen Kopf und sah in ihre glasigen Augen. 
„Po cfart merzitnit bre, menzi s'po pres met hek qafe. (Was für traurig sein, ich kann es kaum erwarten dich loszuwerden.)“

Sie versuchte zu Lachen, was sie auch einigermaßen hinbekam. Die Tränen, die ihr aus den Augen schossen, sprachen jedoch eine andere Sprache. Sentimental war sie schon immer, schon bei den Hochzeiten meiner drei Schwestern, flossen reichlich Tränen. Aber bei mir war das was anderes, zu mir hatte sie eine engere Bindung. Die kleine Fina, war ihrer Meinung nach noch nicht bereit, es mit der großen weiten Welt aufzunehmen. Manchmal zweifelte ich selbst daran. Ich drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und gleich darauf klingelte es an der Tür. Mein Körper versteifte sich kaum merklich. War es schon soweit? 

„Das sind bestimmt Dona und Mimoza. Gehst du an die Tür Dafin?“, sagte Papa. 

Er saß gegenüber von mir und lächelte mich an. Engel. Selbst dieses Wort reichte nicht um ihn zu beschreiben. Gutmütig, Verständnisvoll und voller Liebe. Vier Töchter und keinen einzigen Sohn zu haben, ist schon leicht .. bitter bei uns. Wenn man keinen „Nachfolger“ hat. Aber meinem Papa schien das nie etwas ausgemacht zu haben. Er war sehr stolz auf seine Töchter, arbeitete hart um uns das bestmögliche zu bieten und alles was er von uns verlangte war, der Familie keine Schande zu bereiten. Liebevoll erwiderte ich sein Lächeln und ging dann an die Tür. Mein Neffe Gzim sprang mir grinsend in die Arme. Wie erwartet waren es meine Schwestern, mit ihren Ehemännern. 

„Teze (Tante), spielen wir heute wieder Karten?“, fragte Gzim mich.
„Natürlich Schatz.“, antwortete ich lächelnd. 
„Ich will aber nur mit dir, okay? Die anderen verlieren immer!“, meckerte er. 

Ich zwinkerte ihm zu und küsste ihn. Dona und Gent, das frisch verheiratete Ehepaar kam herein. Gerade erst waren sie aus den Flitterwochen gekommen und die Bräune stand ihnen beiden ausgezeichnet. Mimoza, die zweite von uns Vieren, drückte mich fest an sich und küsste mich auf die Wangen. Ihr Bauch war schön rund, sie war schwanger und erwartete nach Gzim ihr zweites Kind. Seit 7 Jahren war sie glücklich mit Jeton verheiratet, der übrigens Gents großer Bruder war. Zwei Brüder für meine beiden Schwestern. Ich führte sie ins Wohnzimmer, wo anschließend die üblichen Begrüßungsfloskeln folgten. 

„Wo ist Mama?“, fragte Dona mich. 
„In der Küche, ich geh und helfe ihr eben.“, erwiderte ich. 

Erneut klingelte es und diesmal überkam mich eine eisige Gänsehaut, denn ich wusste, wer es war. Vielleicht würde Gzim an die Tür gehen, aber ich sah, dass er ganz vertieft an seinem iPad rumspielte. Ich verstand einfach nicht, wozu ein 6 Jähriges Kind sowas brauchte .. 

„Geh du mach auf Dafin, ich helfe Mama.“, wies Dona mich an.

Bevor ich darauf etwas sagen konnte, verschwand sie schon Richtung Küche. Na toll. Nur mit Mühe setzten sich meine Beine in Bewegung und kurz darauf fand ich mich vor der Haustür wieder. Meine Hand lag auf der Klinke, als ich inne hielt. Meine Knie zitterten … vielleicht lag es daran, dass ich ihn schon so lange nicht gesehen hatte. Ich musste mich jetzt zusammen reißen. Nur ein paar Stunden durchhalten, dann hätte die Show ein Ende. Montag wäre ich in Köln und dann wird alles gut. Ja genau, so würde das laufen. Ohne durch den Spion zu gucken, öffnete ich die Tür und dann sah ich ihn. Grinsend stand er da und seine weißen Zähne blitzten auf. Seine tiefblauen Augen, die von kleinen Fältchen umrahmt waren, passten perfekt zu seinen markanten Gesicht. Die blonden Haare, fielen ihm auf die Stirn. 1,85, genau ein Kopf größer als ich. Durchtrainiert, erfolgreich und ja .. dieser Mann war attraktiv und seine 33 Jahre änderten nichts daran. Aber ich hasste ihn. Ich hasste ihn über alles und jeden! Er hatte meine Kindheit zerstört, mein Vertrauen missbraucht. Jetzt hielt er mir die Hand hin. Die Hand, die immer und immer wieder über meinen Körper gewandert war. Ich kniff ganz kurz die Lider zusammen, um das Bild vor meinen Augen zu verscheuchen. 

„Schön dich zu sehen Fina.“, sagte er plötzlich... 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt