Kapitel 24

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Kapitel 24 : 

Meine Augen waren geschlossen, während seine warmen Lippen auf meinem Mund lagen. Es passierte alles ganz instinktiv, als sei es selbstverständlich. Und ich wehrte mich nicht einmal dagegen. Nein, ich wehrte mich nicht. Nämlich aus dem Grund, dass ich es nicht wollte. Sein Kuss war zärtlich und sanft, und keineswegs drängend oder fördernd. Eher abwartend. Er wartete, dass ich ihn erwiderte, was ich jedoch nicht tat. Das ging doch alles viel zu schnell? Nach ein paar Sekunden, drückte ich ihn mit der Hand, die noch immer auf seiner Brust lag, sachte zurück. Ich hörte mein Herz in meinen Ohren pochen. Mein keuchender Atem stabilisierte sich nur mit Mühe. Kaan ließ meine Hand nicht los, sondern sah mich einfach nur an. Hoffnungsvoll. 

„Kaan ich ..“

Ich stoppte und dachte kurz nach. Wie sollte ich die richtigen Worte finden? Ich wollte diesen Mann. So viel stand fest. Ich wollte ihn, ich brauchte ihn. Er gab mir das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Keine Angst mehr haben zu müssen. Vor Agron. Vor dem Monster. Und vor der Welt. Denn er würde mich beschützen, das hatte er selbst gesagt. Vielleicht war es in den Augen der anderen, moralisch verwerflich, oder sogar eine Schande. Zu dem Zeitpunkt war es mir aber vollkommen egal, was die anderen dachten. Es gab nur ihn und mich. Aber wie .. wie sollte ich ihm erklären, dass ich anders war? Seelisch kaputt .. mit voller Narben. Traumatisiert. Von Albträumen geplagt. Er würde sicher davonlaufen, wenn ich ihm das erzähle. Das würde er doch, oder? 

„Dafina, ich weiss, dass es vielleicht ein bisschen zu schnell für dich geht.“, sagte Kaan auf einmal. 

Seine Stimme holte mich ins hier und jetzt zurück. Seine grünen Augen musterten mich liebevoll.

„Ich weiss, dass vieles gegen uns spricht. Aber ich weiss auch, dass ich hinter meinen Gefühlen stehe und warten werden. Ich will dich in meinem Leben haben. Ich brauch dich. Du musst jetzt nicht antworten. Lass dir Zeit ..“ 
„Ja. Ich .. ich brauch Zeit. Gibt mir ein bisschen Zeit.“, flüsterte ich. 

Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und lächelte mich an. Dann näherte er sich wieder. Mein Herz machte einen Satz, doch zu meiner Erleichterung, drückte er mir nur einen Kuss auf die Stirn. 

„Du weisst, wo du mich findest.“, hauchte er. 

Ein letztes mal noch, strich er mir mit den Fingern über die Wange und ging dann. Als die Tür ins Schloss fiel, ließ ich mich gegen die Wand sinken. Mein Körper war noch immer von Gänsehaut bedeckt und ich konnte nicht glauben, was soeben passiert war. War das auch kein Traum? War das wirklich Realität? Wollte er mich? Liebte er mich? Ich konnte mein Glück in diesem Moment nicht fassen und dachte nicht an die möglichen Konsequenzen dieser Bindung... 

Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf und stieg unter die Dusche. Ich hatte in der Nacht genug Zeit gehabt nachzudenken, aber wusste irgendwie immer noch nicht, wie ich nun vorgehen sollte. Während das warme Wasser auf meinen Körper prasselte, musste ich auf einmal am Papa denken. Ich hoffte so sehr, dass er es akzeptieren würde. Schließlich wollte er doch immer das Beste für mich? Er wollte doch immer, dass ich glücklich bin? Wenn ich ihm deutlich machen würde, dass Kaan der einzige war, der für mich in Frage kam, dann würde er es bestimmt verstehen. Dieses Kopfzerbrechen war ein bisschen dumm, denn es war zu früh um daran zu denken. Zu erst musste ich das mit Kaan klären. Vielleicht sollte ich mit offenen Karten spielen. Ihm direkt sagen, was für eine Vergangenheit ich hatte und was ich durchmachen musste. Es war doch Vergangenheit? Schließlich hatte Agron mich ein für alle mal in Ruhe gelassen und geritzt hatte ich mich seit dem Vorfall mit Mergim, auch nicht mehr. Während und kurz nach dem Aufenthalt im Kosovo, war der Drang wieder da gewesen. Die Sache mit Besa trieb mich tagelang in den Wahnsinn und mehrmals dachte ich daran, mir selbst weh zu tun. Aber ich hatte erfolgreich dagegen angekämpft. Andererseits war das mein großes Geheimnis und ich hatte Angst vor Kaans Reaktion. Der Gedanke daran, dass er nach meinem Geständnis und beim Anblick meiner Narben einfach geht, tat weh... 

Der Tag in der Uni verging für meinen Geschmack viel zu schnell. Alleine in der Wohnung hätte ich wieder zu viel Zeit um nachzudenken. Arjetas Angebot etwas trinken zu gehen, kam mir daher sehr gelegen. Ich packte meinen Block weg, auf dem ich mir ein paar Notizen gemacht hatte und wandte mich dann zu Mergim, der neben mir saß. 

„Du kommst doch mit, oder?“, fragte ich ihn. 
„Ich bin nicht eingeladen.“, meinte er. 

Ich warf einen Blick zu Arjeta, die nur mit den Schultern zuckte. Den ganzen Tag über war sie schon so schlecht gelaunt. Zwar kannte ich den Grund nicht, aber ich ahnte was da vor sich ging. Zwischen Mergim und ihr herrschte eine Spannung, die fast schon mit den Händen zu Greifen war. Ich hatte sie vorhin gefragt, ob Mergim sich bei ihr gemeldet hatte, was sie verneinte. Deshalb war sie wahrscheinlich so sauer, obwohl sie das natürlich niemals zugeben würde. 

„Gimi seit wann lässt du dich von Frauen einladen?“, sagte ich. 

Die Frage klang zwar harmlos, aber ich merkte an Mergims Gesichtsausdruck, dass er wusste was ich meinte. Nämlich das Date. Er wich meinem Blick aus und stand dann auf. 

„20 Uhr? Ich hol euch ab.“, sagte er. 

Ganz kurz sah er mich an, woraufhin ich zustimmend nickte und dann war er auch schon weg. 

„Ich hoffe du hast nichts dagegen.“, fragte ich Arjeta. 
„Quatsch. Immerhin haben wir jetzt jemanden, der uns fährt.“ 

Sie grinste breit und hackte sich dann bei mir unter, während wir den Gang entlang liefen. Das liebte ich an ihr! Ihre Laune konnte sich von einem Moment zum anderen ändern, und ihr Lächeln war ansteckend. Auf dem Weg zu unseren Wohnungen, spielte ich mehrmals mit dem Gedanken ihr von Kaan zu erzählen, ließ es aber letztendlich doch bleiben. Dafür war noch genug Zeit. Ich dachte, ich hätte Zeit alles beiseite zu schieben. Die Meinung meiner Eltern. Die Meinung meiner Schwestern. Die Meinung meiner Oma. Die Reaktionen gewisser Personen. All das versuchte ich zu verdrängen. Für später aufzuheben. Und das war ein Riesen Fehler! Aber woher hätte ich wissen sollen, dass meine Entscheidung solche Folgen haben würde? 

Genau 30 Minuten hatte ich Zeit um mich fertig zu machen. Knapp, aber machbar. Arjeta stieg 4 Etagen vor mir aus und als der Aufzug schließlich erneut aufsprang, traute ich meinen Augen nicht. Lag da wirklich eine Rose vor meiner Tür? Ich rieb mir die Augen, weil ich dachte mich zu täuschen. Aber nein, das war nicht der Fall. Da lag tatsächlich eine rote Rose vor der Tür. Mit klopfenden Herzen näherte ich mich und blieb einen Moment regungslos stehen. Dann bückte ich mich, hob die Rose auf und roch daran. Instinktiv. Mir stieg ein feiner, süßlicher Geruch in die Nase, der meine Sinne betörte. Ich warf einen Blick zur Tür gegenüber und merkte gar nicht, dass ich angefangen hatte zu Lächeln... 

Make up check. Haare check. Die schwarze Jeans lag knall eng an meinen Beinen, die rote Bluse passte perfekt dazu. Meine neuen 13 cm Heels mit Nieten waren heute mein Highlight. Lederjacke drüber, Clutch griffbereit und fertig. Ich war zufrieden mit meinem Spiegelbild, was in letzter Zeit nur sehr selten vor kam. Aber da war etwas, dass mich kurz inne halten ließ. Dieses Lächeln, das nicht von meinem Gesicht wich .. 

Wenig später saßen wir zu dritt in der Shisha Bar. Arjeta hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Mit smokey eyes brachte sie das Blau ihrer Augen noch deutlicher zum Vorschein, die dunkelblonde lange Mähne, war geglättet und fiel ihr bis zur Taille. Sie sah einfach atemberaubend aus! Immer wieder warfen ihr die Typen vielsagende Blicke zu. Und Mergim?! Der beachtete sie gar nicht! Das war gerade wieder einer dieser Momente, an denen man meinen könnte, die Gerüchte er sei schwul, entsprachen der Wahrheit. Aber da ich wusste, dass es quatsch war, verdrängte ich den Gedanken und versuchte mich zu amüsieren. Ich schenkte Arjeta ein herzliches Lächeln, das sie erwiderte. 

„Was ist denn los mit dir, du Grinsebacke.“, wollte sie wissen. 
„Keine Ahnung.“, antwortete ich. 
„Sag jetzt!“ 
„Ich hab vorhin ein Stück Schokolade gegessen, meine Glückshormone spielen verrückt.“ 

Sie schnitt mir eine Grimasse, woraufhin ich laut los lachte. Mergim, der neben mir saß und an der Shisha zog, zuckte nicht mal mit der Wimper. Irgendwas schien ihn zu bedrücken .. 

„Mit der Wohnung alles fix Gimi?“, sprach ich ihn an und stieß ihn dabei in die Schulter. 
„Ja, hab alles fertig gekriegt, als du unten warst.“ 

Mit unten meinte er Kosovo. Er war letzte Woche aus der WG gezogen und hatte sich eine eigene Wohnung zugelegt. Seine Mitbewohner, seien ihm ein Tick zu verrückt. Leisten konnte er es sich ja. 

„Kam me ardh me ta ba banesen per hajr. (Ich werde kommen, um dir zur Wohnung zu gratulieren.) Hast du schon eine Kaffeekanne? Oder brauchst du eventuell neue Gläser?“, grinste ich. 

Endlich schaffte ich es, ihm ein Lächeln zu entlocken. Zufrieden legte ich einen Arm um ihn und kniff ihm in die Wange. Der Rest des Abends war angenehm, aber verging mir einen Tick zu schnell. Mergim fuhr uns gegen 23 Uhr wieder zur Wohnung. Arjeta und ich bedankten uns und stolzierten zum Aufzug. Täuschte ich mich, oder fing mein Herz wieder an schneller zu schlagen? Bumm, bumm, bumm. Oh Gott! Wieso war mir auf einmal so komisch?! 

„Gute Nacht Fina, schlaf gut. Wir sehen uns Morgen.“ 

Ich drückte Arjeta zwei Küsschen auf die Wangen und schon war sie weg. Die Aufzugtüren schlossen sich und führten mich 4 weitere Etagen nach oben. In meine Wohnung. In seiner Nähe. Zu meiner Entscheidung, die ich gefallen hatte. Das Blut schoss durch meinen Körper, als ich erneut eine Rose vor meiner Tür liegen sah. Ich hob sie auf, roch mit geschlossenen Augen einmal daran und stand dann vor der Tür. Nicht vor meiner, nein. Vor seiner. Mein zitternder Finger legte sich auf die Klingel .. Ding – Dong .. Schritte. Immer näher kommende Schritte. Oh Gott .. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt