Kapitel 67

6.9K 314 13
                                    

Kapitel 67 : 

Er küsste mich. Er küsste mich, einfach so! Entsetzten packte mich. Ich drückte ihn von mir weg und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Völlig außer Atem stand ich da und schrie ihn an, während er sich die Wange hielt. Automatisch machte ich ein paar Schritte zurück. 

„Bist du vollkommen übergeschnappt?“, brüllte ich. „Was fällt dir ein?!“
„Bitte verzeih mir, ich will dich wieder haben. Ich bereue es so sehr.“
„Du spinnst doch!“

Als er wieder auf mich zu kam, hob ich sofort meine Hände. 

„Komm mir nicht zu nahe!“, warnte ich ihn. 
„Ich liebe dich Fina, du liebst mich. Wir gehören zusammen, wir können alles hinter uns lassen und von vorne anfangen. Nur du und ich. Agron wird dir nie mehr etwas antun.“

Oh Gott, wie wütend es mich machte, dass er mich Fina nannte. Das erinnerte mich an Agron. 

„Von vorne anfangen?“, fragte ich ungläubig. 
„Ja! Nur du und ich ..“, versicherte er mir. 
„Nur du .. und ich.“, wiederholte ich seine Worte. 
„Kein Agron. Kein Mergim. Niemand der zwischen uns steht.“
„Ich habe schon von vorne angefangen. Ohne dich.“
„Wir gehören zusammen!“

Er ließ nicht locker und setzte diesen Hundeblick auf, bei dem ich früher immer schwach geworden war. Mit einem Lächeln im Gesicht näherte ich mich ihm. Unmittelbar vor ihm, hielt ich inne und stellte mich auf Zehenspitzen, bis unsere Augen auf selber Höhe waren. Das Grün seiner Augen funkelte erwartungsvoll, sein Atem ging flach. 

„Ich habe eine Frage, oder besser gesagt eine Bitte.“, sage ich. 
„Alles was du willst.“, antwortete er lächelnd. 

Ich erwiderte sein Lächeln, war mir aber sicher, dass seines gleich vergehen würde. 

„Du und ich .. wir gehen jetzt zur Polizei.“, sprach ich weiter. 
„Zur .. Polizei? Für was?“, fragte er misstrauisch. 
„Du gibst alles zu .. Wort für Wort. All das, was du mir gerade erzählt hast, wirst du der Polizei beichten. Du wirst dafür sorgen, dass Agron hinter Gittern kommt.“

Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, er sah so blass aus, als hätte er gerade ein Gespenst gesehen. Natürlich wusste ich die Antwort auf meine Bitte. Natürlich würde er nicht mit mir zur Polizei kommen. Schließlich würde er ja selbst ins Gefängnis wandern. Aber ich wollte sie sehen, seine Reaktion. Seine Feigheit. Die Angst in seinen Augen. 

„Ich kann das nicht tun, du weißt, was das für mich bedeuten würde.“, sagte er schließlich. 

Schon erstaunlich, wie sich eine Stimme in so wenigen Sekunden ändern konnte. Wo er bis gerade noch so selbstbewusst und erwartungsvoll klang, hörte er sich nun so jämmerlich an. 

„Hab ich mir schon gedacht.“, flüsterte ich. 

Ich wollte zurück treten, doch er griff nach meinem Handgelenk und hielt mich fest.

„Lass uns alles vergessen! Lass uns von vorne anfangen ..“
„Fass mich nicht an!“, zischte ich dazwischen und riss mich los. „Alles vergessen?“

Ich lachte auf und zeigte ihm den Vogel. 

„Ich soll vergessen, dass du mich verarscht hast, dass du mit mir gespielt hast? Ich soll vergessen, dass ich deinetwegen vergewaltigt wurde und dass meine beste Freundin wegen euch Ehrenlosen, widerlichen Monstern, sich das Leben genommen hat? Wie .. sag, wie zum Teufel, kannst du von mir verlangen, dass ich vergesse? Nach all dem, was du mir angetan hast?!“
„Dafina, ich ..“
„Sei still!“, schrie ich. „Halt verdammt nochmal deine verlogene Fresse!“

Mit weit aufgerissenen Augen starte er mich an. Er schien schockiert über meinen Wutausbruch. 

„Ich bin diejenige, die Nachts schweißgebadet aufwacht, weil sie mal wieder geträumt hat. Ich bin diejenige, die entehrt wurde, deren Körper benutzt wurde. Ich bin diejenige, die mit dieser Gewissheit leben muss, bis ans Ende meiner Tage! Ich bin diejenige, die ich ihre Beine aufschlitzt, weil sie dem Druck nicht standhalten kann und es so krass schmerzt! Und jetzt sag nochmal, dass ich vergessen soll und so tun soll, als wäre nie was gewesen! Das ist verdammt nochmal einfach nur egoistisch und dumm, was du da von mir verlangst.“

Einen Moment lang war es ruhig. Mein Brustkorb hob und senkte sich, ich rang nach Luft. Kaan stand nur da, sah mich kurz an und starrte dann wieder zu Boden. 

„Wir könnten neu anfangen ..“, sagte er. 
„Das habe ich schon. Ich habe neu angefangen. Ohne dich.“
„Mit Mergim?“

Ich nickte lächelnd. 

„Mit Mergim.“, wiederholte ich seine Worte. 
„Willst du damit etwa sagen, dass du mich nicht mehr liebst?“, fragte er schockiert. 

Er hob seinen Kopf, Tränen kullerten ihm erneut die Wange herab. Aber sie berührten mich nicht. 

„Nein. Damit will ich sagen, dass ich dich nie geliebt habe.“
„Autsch ..“, flüstert er. „Das tat weh.“
„Glaub mir, deine Schmerzen sind nichts im Gegensatz zu meinen. Wenn du auch nur ansatzweise das fühlen könntest, was ich fühle .. du verstehst das nicht. Du wirst es nie verstehen.“
„Ich wollte das nicht .. ich wollte das alles nicht.“

Er vergrub das Gesicht in seine Hände und schluchzte. Mir war fast schon nach Lachen zumute. Wie lächerlich diese Szene einfach war, Kaans schauspielerische Leistung verdiente eine eins. 

„Weißt du, deine Mutter tut mir leid. Sie denkt, sie hätte einen wundervollen Jungen, der sich um sie kümmert. Aber in Wahrheit ist dieser Junge ein skrupelloser Menschenhändler.“ 
„Ich wollte das verhindern!“, beteuerte er. 
„Hast du aber nicht. Ich werde jetzt gehen. Hör mir gut zu .. eines Tages, ja eines Tages, wirst du für alles bezahlen. Du wirst das kriegen, was du verdienst. Gott wird dafür sorgen. Aber nicht nur Gott, auch ich werde alles tun, damit du bestraft wirst. Es wird der Tag kommen, an den du dir wünschen wirst, du hättest diesen Auftrag niemals angenommen und mich niemals kennen gelernt.“
„Ich ..“
„Stop.“ 

Ich hob meine Hand, um ihn zum schweigen zu bringen. 

„Es ist alles gesagt.“ 

Ja, es war alles gesagt. Ich drehte mich um und verließ die Wohnung. Mergim stand am Treppenabsatz und eilte sofort auf mich zu. Ich fiel ihm um den Hals. Seine Umarmung tat gut, das war genau das, was ich gerade brauchte. Geborgenheit und Liebe, die ich nur in seinen Armen fand.

„Hat er dir was getan?“, fragte er mich. 

Ich machte mich von ihm los und schüttelte den Kopf. 

„Lass uns gehen.“, sagte ich leise. 

Er nahm meine Hand und führte mich nach draußen. Anschließend stiegen wir in den Wagen und fuhren nach Köln zurück... 

Es war eine lange und anstrengende Fahrt gewesen. Irgendwann im Verlauf der nicht enden wollenden Stunden, war ich sogar eingeschlafen und Mergim hatte mich erst geweckt, als wir vor meiner Wohnung parkten. Sanft strich er mir über den Arm, während ich blinzelnd meine Augen öffnete. 

„Wir sind da, zemer.“, flüsterte er lächelnd. 

Ich liebte dieses Wort aus seinem Mund. Es klang jedes mal voller Liebe und .. es klang ehrlich. Ich erwiderte sein Lächeln und versuchte das bedrückende Gefühl zu verdrängen, das gerade in mir aufstieg. Draußen war es schon dunkel und die Kälte erinnerte mich wieder daran, dass der Winter angebrochen war. Als ich aus dem Wagen stieg, fielen tatsächlich schon leichte Schneeflocken vom sternenvollem Himmel. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, schloss meine Augen und genoss das kalte Gefühl des Schnees auf meinem Gesicht. Es sorgte dafür, dass ich wieder hellwach war. Mergim trat neben mich, nahm meine Hände und hauchte Küsse darauf. Sein warmer Atem tat gut. 

„Versprich mir, dass du noch was isst, bevor du schlafen gehst. Okay?“

Wie auf Stichwort knurrte mein Magen und ich konnte einfach nicht anders als loszulachen, obwohl meine Situation alles andere als zum Lachen war. Mergim tippte mir auf die Nase und sah mich streng an. Das versuchte er zumindest, aber auch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. 

„Ich mein es ernst. Bitte iss was.“, sagte er erneut. 
„Komm und füttere mich.“
„Dein ernst?“, fragte er verblüfft.
„Vielleicht.“

Er musterte mich lange, versuchte meinen Gesichtsausdruck zu deuten und nickte dann schließlich. 

„Vielleicht, ist besser als nein.“, sagte er und gemeinsam gingen wir in die Wohnung. 

Ich hatte heute nur ein kleines Sandwich gegessen und hatte dementsprechend wirklich Hunger. Aber das verpuffte augenblicklich, als wir in die eiskalte Wohnung traten. 

„Kalt.“, bibberte Mergim. 
„Verdammte scheiße!“, fluchte ich, noch bevor ich die Tür schloss. 

Ich hatte vergessen die Heizung einzuschalten! Während ich die Schlüssel auf den Tisch warf und sofort zur Heizung eilte, kam es mir so vor, als würde ich durch einen Gefrierfach wandern. Ehe ich mich versah, verschwand Mergim auch schon in der Küche. Ich folgte ihm. Belustigt sah ich mit an, wie er mit verschränkten Armen vor dem Kühlschrank stand und den Inhalt begutachtete. 

„Nicht dein ernst? Was sollen wir essen, das Ding ist so gut wie leer.“, schmollte er. 
„Also ehrlich gesagt ist mir der Appetit vergangen.“
„Ausrede, nur weil du nichts gescheites zum Essen hast.“ 

Grinsend schloss er den Kühlschrank und kam dann auf mich zu. 

„Ich werde Morgen einen Großeinkauf machen und das Ding wird so voll, dass es platzt.“
„Das Ding .. hat einen Namen.“, grinste ich. 
„Nein. Nein Madame. Ich kann das Ding nicht Kühlschrank nennen, wenn nichts drinnen ist.“ 
„Wieso?“
„Weil es den Namen momentan nicht verdient hat.“
„Du bist komisch.“, stellte ich fest. 
„Nein, ich bin Mergim.“ 
„Stimmt.“ 

Ich weiß nicht genau wieso, aber es tat gut über so unnötiges Zeug zu reden. Es tat gut, in der Küche zu stehen, zu lachen und nicht über die letzten Stunden nachzudenken. Während der Fahrt hatte ich Mergim kurz und knapp erzählt, was Kaan mir gebeichtet hatte. Er hatte so laut geflucht und gegen das Lenkrad geschlagen, dass ich zwischenzeitlich Angst hatte, er würde gegen einen Baum rasen. Mir war es gelungen ihn zu beruhigen. Es war, als hätten wir ein stummes Abkommen abgeschlossen, dass wir heute nicht mehr darüber reden. Und es war mir mehr als Recht, denn ich brauchte Zeit das alles zu verarbeiten. Aber nicht jetzt. Wir gingen ins Wohnzimmer, setzten uns und warteten darauf, dass es endlich warm wird. Mehrere Minuten vergingen, aber nichts tat sich. 

„Das kann doch nicht sein.“, sagte ich verwundert. 
„Warte ich schau mal.“

Mergim stand auf und warf einen Blick auf die Heizung. Als er sich umdrehte und die Lippen aufeinander presste, ahnte ich schon was war. 

„Kaputt?“

Er nickte. 

„Ne, oder? So ein scheiß!“ 

Um die Uhrzeit einen Heizungsmonteur zu rufen war unnötig, zu mal mir fast die Augen zu fielen. Ich würde mich einfach fett zudecken und hoffen, dass ich über Nacht nicht zur Eiskönigin werde. 

„Du hast Recht. Versuch zu schlafen und dich auszuruhen, Morgen wird das dann repariert.“, stimmte Mergim mir zu, nachdem ich meine Gedanken ausgesprochen hatte. 

Alles was ich jetzt wollte, war unter der Decke zu liegen. So kalt, dass ich erfriere war es dann doch wieder nicht. Mergim drückte mir einen Kuss auf die Stirn und machte sich zum Gehen bereit. 

„Wohin .. wohin willst du?“, stotterte ich. 

Er sah mich fragend an. 

„Bleib.“, kam es leise von meinem Mund... 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt