Kapitel 72

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Kapitel 72 : 

Mein Mund schien zugeklebt zu sein, denn ich konnte gerade nichts machen, außer Agron mit weit aufgerissenen Augen anzustarren. Wo ich vor ein paar Minuten noch zuversichtlich in die Zukunft geblickt hatte und froh darüber war gleich Mergim zu sehen, stand ich nun zitternd hier und wünschte ich würde träumen. Unfassbar, wie schnell so etwas geht. Ich versuchte mein Gehirn anzustrengen und zu überlegen, was ich tun sollte. Unterdessen kam Agron immer näher. Mit kleinen, bedrohlichen Schritten verringerte er den Abstand zwischen uns. 

„Was willst du? Hau ab, sonst ruf ich die Polizei!“ 

Meine Stimme bebte und ich hörte mich alles andere als souverän an. Aber mal ehrlich, wie sollte das auch gehen, wenn mein Körper verrückt spielte? Mein Verstand blendete gerade alles um mich herum aus. Da war nur Agron, der immer näher kam, und diese Wand gegen die ich mich mittlerweile gelehnt hatte. Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer lauter, ich hatte das komische Gefühl als würden meine Knie jeden Moment weg knicken. Wieso sah er so gelassen aus? So furchtlos. Das machte mir nur noch mehr Angst. Er wirkte so von sich selbst überzeugt und sein Lächeln ließ mich wissen, dass er die Oberhand hatte und ich nichts dagegen tun konnte. Er ist der Starke, ich bin die Schwache. Er ist der Jäger, ich bin die Beute. Ich war machtlos. So war es doch, oder? Ich versuchte mir einzureden, dass es nicht so war. Versuchte mich an irgendwas zu klammern, an einen Funken Hoffnung. Instinktiv schlossen sich meine Augen und ich dachte an die Zukunft. An eine blendende, glückliche Zukunft, in der es keinen Agron gibt. 

„Du hast einen Fehler gemacht.“

Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich öffnete meine Augen und blickte ihn an. Ihn, das Böse. Und er war pure Realität. Wann würde es die Erlösung geben? Agron zog eine Waffe hervor und im nächsten Augenblick stand er direkt vor mir. 

„Du bist sehr neugierig Fina, weißt du das?“, flüsterte er bedrohlich. 

Unwillkürlich schluckte ich. Mein Körper verkrampfte sich, meine Hände ballten sich zu Fäusten. Er stand nur Zentimeter von mir entfernt, berührte mich aber nicht. Noch nicht. Die schwarze Waffe hielt er gesenkt, aber sie war da. Ich wusste es und er wollte, dass ich es weiß. 

„Du bist krank.“

Irgendwie schaffte ich es diese Worte aus meinem Mund zu bekommen. Ein Fehler. 

„Sag das nochmal.“, verlangte Agron. 

Er war mir nun so nahe, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spürte. Ich biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang meine Worte zu wiederholen. Agrons Miene verfinsterte sich und einen Lidschlag später, spürte ich seine starke flache Hand, die voller Wucht gegen mein Gesicht knallte. Der Schlag kam so unerwartet, dass ich schockiert aufschrie und mir an die pochende Wange griff. 

„Du hast mich doch gehört, oder?“ 

Keine Antwort von mir. Nach wie vor klang er erschreckend ruhig. Gelassenheit in Person. 

„Oder?!“, brüllte er so plötzlich, dass ich zusammen zuckte. 

Ich nickte. Eine verzweifelte Reaktion meinerseits. Meine Dummheit, mein Stolz oder was auch immer .. war gebrochen. Agron hatte mich gebrochen. 

„Braves Mädchen.“, sagte er sichtlich zufrieden. 

Das Lob klang so, als würde er zu Besa sprechen. Absurd und surreal, kam mir das vor. 

„Und jetzt .. sag es nochmal.“, fuhr er fort. 

Er wollte hören, dass er krank war. Er wollte es hören, von mir. Was blieb mir schon anderes übrig, als ihm seinen grotesken Wunsch zu erfüllen? 

„Du bist krank.“, sagte ich schließlich. 
„Das sagt Frau Mittermeier auch.“ 

Er fing an zu kichern. So richtig zu kichern. Krankhaftes Kichern, das mir einen Schauder einjagte und mich verwirrte. So abrupt wie es angefangen hatte, hörte es dann wieder auf. Ehe ich mich versah und mich fassen konnte, verpasste er mir noch eine. Meine Knie gaben nach und ich rang nach Luft. Das war gerade alles zu viel für mich, ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. Ich hatte keine Zeit um durchzuschnaufen. Agron packte mich an den Haaren und zog mich auf die Beine. Es war, als hätte er mehrere Persönlichkeiten. Eine schlimmer und grausamer als die andere. 

„Detektiv spielen liegt dir nicht Fina, ich glaub das hast du jetzt auch verstanden.“
„Du bist Abschaum!“, zischte ich mit Tränen in den Augen.

Anschließend tat ich etwas, das ich vielleicht nicht hätte tun sollen. Ich spuckte ihm ins Gesicht. Als Antwort darauf verpasste er mir eine weitere Ohrfeige. Meine rechte Gesichtshälfte brannte wie Feuer und auch mein Körper hatte eine abnormale Temperatur angenommen. Doch damit nicht genug. Er kramte in der Innentasche seiner Jacke, holte einen Schalldämpfer hervor und machte diesen an die Waffe dran. Mein Herz blieb stehen und ich dachte mir .. das war's jetzt. Mit der linken Hand packte er erneut meine Haare und zog meinen Kopf ein wenig nach hinten. Er steckte mir den Lauf der Waffe in meinen Mund, der vor Schock schon weit geöffnet war. 

„Du hast eine große Klappe. Ich mag das nicht.“, sagte er leise. 

Ich versuchte mich zu wehren, griff nach seinen Schultern und kratze ihn so fest ich konnte. Sofort spürte ich Blut zwischen meinen Fingernägeln, doch er blieb unbeeindruckt. Er ließ meine Haare los und packte mich stattdessen am Hals. Rüde drückte er mich gegen die Wand und als er auf einmal den Gürtel meines Bademantels aufmachte, drohte ich völlig den Verstand zu verlieren! Ich konnte mich nicht mehr rühren. Meine Lippen wurden taub, meine Hände, meine Füße. Ich spürte nichts mehr, da war nur noch diese Todesangst. Mein Körper hyperventilierte. Er würde schießen, er würde nicht zögern. Skrupellosigkeit kennt keine Grenzen und ich traute es Agron zu, einfach den Abzug zu betätigen und seelenruhig die Wohnung zu verlassen. Der Schalldämpfer war so tief in meinem Mund, dass ich würgen musste. Er ließ meinen Hals los, strich anschließend mit dem Finger über mein Schlüsselbein und grinste. Ich japste nach Luft, nachdem er die Waffe aus meinem Mund zog. Für eine Sekunde dachte ich, der große Horror hätte ein Ende, aber so war dem nicht. Mit der Waffe fuhr er direkt meinem Hals entlang die Linie zwischen meiner Brust nach und zog die Seiten meines Bademantels zurück. Da stand ich nun, so gut wie nackt und musste mitansehen, wie dieses Tier sich hungrig über die Lippen leckte.. Das Grauen ging weiter. Die Waffe wanderte tiefer .. tiefer .. immer tiefer, bis sie schließlich zwischen meine Beine angelangte. Mein Inneres verkrampfte sich, ich hatte große Mühe richtig zu atmen. Ich schloss meine Augen, Tränen der Erniedrigung liefen mir über das Gesicht. Diese Demütigung ist nicht in Worte zu fassen. Nein, das kann man nicht beschreiben, nicht einmal ansatzweise! Ich wünschte mir gerade so sehr, er würde einfach abdrücken und dem ganzen ein Ende geben. Dieser Hölle in der ich mich befand, diesem Schrecken dem ich nicht entfliehen konnte. 

„Ich hab bekommen was ich wollte.“, sprach er plötzlich weiter. 

Das Blut rauschte in meinen Ohren, sodass sich seine Stimme merkwürdig fremd anhörte. 

„Schwer zu glauben, aber mehr will ich nicht.“ 

Er grinste wie jemand, der gerade überaus glücklich war. Dann nahm er endlich die Waffe zwischen meinen Beinen weg und trat einen Schritt zurück. Mein Kopf brummte. Mein Körper fühlte sich schlaff an und meine Knie schafften es nicht mehr mich zu halten. Ich ging zu Boden, zog dabei meinen Bademantel enger um meinen Körper und weinte stumm vor mich hin. 

„Hör auf zu recherchieren, sonst wird das böse Enden. Und das wollen wir doch nicht, stimmt's?“ 

Ich hob vorsichtig meinen Kopf und sah diesem Stück Dreck, das so hässlich grinste ins Gesicht. 

„Das zwischen dir und mir .. ist hiermit offiziell beendet.“, sagte er und zwinkerte mir dabei zu.

Angewidert verzog ich das Gesicht, während der die Waffe zurück in seine Jackentasche steckte. Ein letzter Luftkuss und weg war er. Genauso plötzlich wie er kam. Auf allen Vieren kroch ich zur Wohnungstür, rappelte mich dort auf und schlug dagegen. 

„Elender Bastard.“

Eine Mischung aus wimmern und zischen, kam da aus meinem Mund. Ich stand eine Weile so dort und wartete darauf, dass meine Tränen versiegten. Offiziell beendet. Das dachte aber auch nur er... 

Plan hin oder her. Es war nun alles egal. Ich raste durch die Autobahn und hatte ein festes Ziel vor Augen. Teuta. Sie muss alles erfahren, alles. Ich hatte keine einzige Sekunden daran gedacht, nach dieser Showeinlage meinen Mund zu halten. Das war es, was er wollte. Ich sollte die Schnauze halten, mein Geheimnis hüten und damit weiter leben. Aber ich konnte und wollte nicht mehr. Ich würde reden. Jetzt erst recht! Mehrmals hatte ich versucht Mergim zu erreichen, sein Handy war jedoch aus. Er saß gerade bestimmt irgendwo mit seiner Familie und amüsierte sich. Egal, besser so. Ich hatte ihn schon genug in diese Sache mit reingezogen. Das hier war nun eine Angelegenheit zwischen Agron, Teuta und mir. Ich würde endlich all das sagen, was mich die letzten Jahre so fertig gemacht hatte. Was mir seit meiner Kindheit die Luft zum Atmen nahm. Ich würde Agrons wahres Gesicht enthüllen, koste es was es wolle. Mit quietschenden Reifen hielt ich gegen 22:30 Uhr vor den Eingangstüren des großen Hauses. Ich sah, dass Agrons Wagen schon in der offenen Garage stand und fluchte leise vor mich hin. Er war schneller als ich. Das war mir zwar klar, trotzdem hatte ich gehofft, dass er unterwegs noch irgendwo einen Abstecher machen würde. Wie auch immer, dass er zu Hause war, hinderte mich nicht an meinen Vorhaben. Ich ließ meinen Wagen am Straßenrand stehen und lief mit schnellen Schritten die beleuchtete Einfahrt entlang zur Haustür. 
Bevor ich klopfen konnte, öffnete sich die Tür auf einmal. Teuta .. sie muss mich vom Fenster aus gesehen haben. 

„Schatz, ist was passiert? Was machst du hier um die Uhrzeit?“, fragte sie besorgt. 

Sie drückte mich kurz an sich und ließ mich rein. Schweigend folgte ich ihr ins Wohnzimmer und stellte erleichtert fest, dass Agron nicht hier war. Vielleicht schlief er schon, genauso wie die Kinder.

„Teuta, ich muss dir was erzählen. Es tut mir leid, aber ich muss es tun.“, sagte ich. 
„Mach mir jetzt keine Angst.“, flüsterte sie. 

Es tat weh sie so zu sehen. Es tat weh zu wissen, dass mein Geständnis ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Aber noch mehr tat es weh, dass ich nicht wusste, ob sie mir überhaupt Glauben schenken würde. Ich fing an zu reden. Der Anfang fiel mir schwer, doch mit jedem Wort, mit jedem Satz fühlte es sich befreiender an. Ich weinte, die Tränen liefen mir im Strömen über die Wangen. Ich erzählte ihr nicht nur von der Vergangenheit, auch die Gegenwart ließ ich nicht aus. Ihr Blick blieb ausdruckslos, nur an ihrer Körperhaltung konnte ich sehen, dass meine Worte sie erreichten. Ich war noch nicht ganz fertig, als Agron plötzlich durch die Wohnzimmertür kam. Er rieb sich mit einem Handtuch das Haar trocken und als er mich sah, riss er die Augen auf. Überraschung. 

„Was .. Teuta?“, fragte er sichtlich überrollt. 
„Meine Schwester sitzt seit ein paar Minuten hier und meint, du hättest sie vergewaltigt.“

Sie klang komisch .. ich kannte diese Tonart nicht. Das machte mir Angst. 

„Außerdem behauptet sie, du würdest sie seit Jahren missbrauchen.“
„Das glaubst du natürlich nicht. Das ist lächerlich.“, erwiderte Agron. 

Teuta fing plötzlich an zu Lachen und nun wusste ich, dass sie mir nicht glaubt. Agron stimmte mit ein, warf das Handtuch auf die Couch und fuhr sich durch die nassen Haare. Meine Schwester, meine große Schwester, die ich so sehr liebte, sie glaubte mir nicht. Alles umsonst. Alles war umsonst gewesen. Teuta senkte ihren Kopf, starrte ein paar Sekunden lang zu Boden und atmete tief ein und aus. Ich brach gerade innerlich zusammen. 

„Raus aus meinem Haus.“, flüsterte sie. 

Ich hatte verloren. Verloren .. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt