Kapitel 57

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Kapitel 57 : 

Mein Kopf brummte. Ich griff mir an den Schädel und trat dabei noch weiter zurück. Mein Gehirn hatte aufgehört zu arbeiten, nur noch Leere, schwarze, unendliche Leere, die mich ausfüllte.

„Dafina .. was ist los?“, hörte ich Mergim sagen. 

Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne und doch hallte sie in meinen Ohren wieder. Und dieser Geruch .. dieses Parfüm, es schwebte um mich herum wie ein Netz, in das ich gefangen war. Es umhüllte mich, ließ mein Inneres zusammen ziehen und sorgte gleichzeitig dafür, dass mir übel wurde. Eine Gänsehaut legte sich über meinen Körper, so, als wären diese Hände erst gerade darüber gestrichen. Mergims Hände? 

„Dafina?“

Arjeta trat neben mich, legte ihre Hand auf meine Schulter und holte mich so, aus meiner Schockstarre. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mergim sich näherte. 

„Komm mir nicht zu nahe!“, zischte ich in seine Richtung. 
„Was ist denn passiert?“, sagte er verwirrt. 

Er wusste es doch? Er wusste es doch selbst am besten? Ich war fassungslos, bestürzt und drohte die Fassung zu verlieren. Das konnte doch nicht wahr, das würde er mir doch nicht antun? 

„Lass uns gehen Arjet.“, sagte ich zitternd. 

Ich nahm sie an der Hand und zog sie zum Auto. 

„Dafina! Was ist passiert und was zum Teufel macht ihr hier?“, schrie Mergim uns hinterher. 

Abrupt drehte ich mich um. Als er näher kommen wollte, hob ich meine Hand. 

„Bleib weg!“, zischte ich. 
„Wieso?“
„Das weißt du doch selbst am besten!“, brüllte ich zornig. 
„Wovon redest du? Was macht ihr hier, wonach sucht ihr?“
„Andere Frage, was machst du hier?! Willst du nochmal ran?“

Ungläubig schüttelte er mit den Kopf, so, als habe er wirklich keine Ahnung, wovon ich da sprach. Schweigen breitete sich aus, das eine gefühlte Ewigkeit anhielt und man nur das Pfeifen des Windes hörte. Arjeta trat zwischen uns, sah von mir zu ihm und wieder zurück.

„Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?“, wollte sie wissen. 
„Das würde ich auch gerne wissen.“, erwiderte Mergim.

Nun war ich diejenige, die mit dem Kopf schüttelte. Vor mir stand mein bester Freund, mein Seelenverwandter, mein Halt in den letzten Jahren. Derjenige, der fast alles von mir wusste, dem ich alles anvertraut hatte, ohne mir jemals Sorgen gemacht zu haben. Und nun? Stand nun wirklich die Person vor mir, die mir alles genommen hatte? In einer Nacht? Meine Ehre, meine Würde, mein Leben. Während ich nach dem Wieso fragte, schossen mir erneut Erinnerungen durch den Kopf. Automatisch drückte ich meine Augen zusammen. Kaan, voller Blut, vor mir kniend. Ich, fesselnd auf einen Stuhl. Dann ist alles wieder schwarz und ich rieche es. Dieses Parfüm. Ich rieche es klar und deutlich, während er dicht an mein Ohr stöhnt. Wieso verdammt, wieso? 

„Dafina? Dafina!“ 

Jemand rüttelte an meinen Handgelenken. Ganz unbewusst, hatte ich angefangen zu schreien und mir dabei die Ohren zugehalten. Ich öffnete meine Augen und sah Mergim vor mir stehen. 

„Fass mich nicht an! Bei Gott, ich zeig dich an!“, brüllte ich und riss mich von ihm los. 

Ihm fiel die Kinnlade herunter, aber wieso? Wieso tat einen auf überrascht? Ich hatte ihn entlarvt, daran änderten auch seine KO Tropfen nichts. Die Lücken in meinem Gedächtnis wurden gefüllt. 

„Dafina!?“, mischte sich Arjeta nun wieder ein. 

Ich drehte mich um, schwankte die paar Schritte bis zum Wagen und stieg ein. Arjeta folgte meinem Beispiel. Mein Verstand spielte verrückt. Meine Hände zitterten, Tränen liefen mir nun über die Wangen. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor an. Mergim stand noch immer an der selben Stelle, doch ich traute mich nicht in seine Richtung zu schauen. Mit quietschenden Reifen fuhr ich davon. Weg von dieser Hölle, weg von ihm... 

„Willst du uns umbringen? Sag mir wenigstens Bescheid, wenn dem so ist, damit ich mich ordentlich darauf vorbereiten kann.“ 

Arjetas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Viel zu schnell war ich unterwegs, ich raste, genauso, wie mein Herz raste. Unwillkürlich nahm ich den Fuß vom Gaspedal und verlangsamte mein Tempo. Und ja, auch mein Herzschlag stabilisierte sich nun, auch wenn das Chaos in meinem Inneren blieb. Vor allem das, in meinem Kopf. 

„Kannst du .. kannst du weiterfahren?“, fragte ich leise.

Ich sah ganz kurz zur Seite, ein Nicken von Arjeta folgte. Mein Blick richtete sich wieder auf die Straße, ich fuhr Rechts ran und tauschte Plätze mit ihr. Sie sagte nichts. Sie wartete darauf, dass ich es sagte, dass ich meinen Verdacht, meine Gewissheit aussprach. Aber ich konnte gerade nicht reden, ich starrte einfach aus dem Fenster und kämpfte mit meinen Gedanken. Es schoss mir wie ein Blitz vor Augen. Mir ging ein Licht auf. Alles machte Sinn. Mergims Worte, die nun dem Ganzen nun irgendwie .. den Rest gaben. Wie eine Unterschrift. 

'Er wird seine gerechte Strafe bekommen, dafür werde ich sorgen.' 

Er hatte Kaan gemeint und Kaan wurde halb tot geschlagen. Vor meinen Augen. 

'Diese Entscheidung wirst du früher oder später, bitter bereuen Dafina. Ja, es wird der Tag kommen, an dem du dir wünschen wirst, die Zeit zurück drehen zu können. Merk dir meine Worte.' 

Und wie ich mir seine Worte gemerkt hatte. Und wie ich es bereute. Und wie ich mir wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen! Hatte er schon damals geplant, mir das anzutun? 

'Irgendwann fessel ich dich an einen Stuhl ..' 

Verdammt nochmal! Selbst seine Worte, die er zum Spaß gesagt hatte, waren eingetroffen! Es bestand keine Zweifel, mein Verdacht bestätigte sich. So sehr es auch schmerzte, so sehr es auch mein Herz in tausend Stücke teilte und mir den Boden unter den Füßen riss. Mergim war es gewesen, er hatte mich vergewaltigt... 

Wieso? Ein einziges, kleines Wort, über das man sich den Kopf zerbrechen konnte. Wir saßen wieder in Arjetas Wohnung, umhüllt von bedrücktem Schweigen und starrten Löcher in die Wand. Es war schier unmöglich, meine Gefühle und Gedanken, in Worte zu fassen. Ihr zu erklären, was in mir vorging, wie mich der Schmerz Stück für Stück auseinander nahm. 

„Ich glaub das nicht.“, durchbrach Arjeta schließlich die Stille. 

Ihre Worte brachten mich durcheinander. Was genau glaubte sie denn nicht? 

„Ich glaube nicht, dass er es war. Er würde das niemals tun! “, sprach sie weiter und beantwortete somit meine unausgesprochen Frage. 

Wie sehr ich mir wünschte, ich würde mich täuschen! Wie sehr ich mir wünschte, dass er es nicht gewesen war! Aber alles sprach dafür .. alles. Ich entschuldigte mich und ging ins Bad. Mein Kopf pochte. Ich fühlte mich schlagartig so machtlos, so hilflos. Was sollte ich denn nun tun, wie sollte ich vorgehen? Ich wusste es nicht. Alles was ich gerade wusste war, dass mir diese Klinge, die vor mir lag, helfen würde. Meine Hose lag schon auf dem Fliesenboden. Und dann zog ich die Klinge, mehrmals über meine Haut. Ich fuhr Narben nach, die schon längst verheilt waren, die schon längst vergessen waren. Nun, was heißt vergessen .. verdrängt, war das richtige Wort. Denn sie waren nach wie vor da, auf meinen Oberschenkeln. Zeichen des Schmerzes, der Hilflosigkeit. Es waren Zeichen, die meiner Schwäche einen Stempel setzten, die mich tagtäglich daran erinnerten, dass ich dem Druck nicht gewachsen war. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schloss meine Augen. Verdammt, es tat so weh! Total unerwartet öffnete sich plötzlich die Tür. Arjeta stand nun im Bad, ein erstickter Laut kam aus ihrem Mund, die Augen weit aufgerissen. Jetzt hatte ich allen ernstes noch vergessen, die Tür abzuschließen. Seltsam .. es machte mir nichts aus, ich fühlte gar nichts. 
Es kam mir vor wie in Zeitlupe, als Arjeta sich näherte und mir die Klinge aus der Hand nahm. Sie setzte sich zu mir auf dem Wannenrand und legte einen Arm um mich. Und sie weinte. Sie weinte bitterlich, während ich ausdruckslos nach vorne starrte und das Blut auf meinen Oberschenkeln trocknete. Im Moment war ich .. leer. Einfach nur leer, wie ein Hülle ohne Inhalt. 

Ich konnte nicht schlafen, obwohl ich so müde war. Müde, auch vom Leben. Außerdem wollte ich nicht schlafen, weil ich so schreckliche Angst vor meinen Albträumen hatte, die sich jedes mal so verdammt real anfühlten. Irgendwann mitten in der Nacht, hatte ich auch meine Tränen wieder gefunden. Ich glaube war besser so, der Druck in meinem Inneren löst sich zumindest ein wenig, wenn ich den Tränen freien Lauf lasse... 

Und so vergingen weitere Tage, weitere Nächte, weitere Stunden, qualvolle Stunden. In meinem Kopf kreiste unaufhörlich Mergim. Schockiert, Enttäuscht, Zerstört, Verzweifelt. Nur ein paar der Wörter, die meine Lage beschrieben. Ich war am Boden und bezweifelte, dass ich jemals wieder hoch kam. Kein Lebenszeichen von Kaan, er war weg. Vielleicht war Mergim auch abgehauen, Gott weiß. Nach ein paar Tagen ging ich raus, nachdem Arjeta zur Arbeit gegangen war. Ich brauchte frische Luft, denn in der Wohnung drohte ich zu ersticken. Es war kurz vor Mitternacht. Eine ganze Weile war ich umher geirrt und fand mich plötzlich vor einer Disko wieder. Die laute Musik drang bis nach draußen und plötzlich verspürte ich das Bedürfnis da rein zu gehen. Und das tat ich dann auch. Durch die Lichter wurde mir schlagartig schwindelig. Irgendwie schaffte ich es an einen Tisch. Ein paar Typen saßen dort, ich kannte sie aus der Uni. Jemand fragte mich, ob ich etwas trinke wolle und reichte mir gleichzeitig ein Glas. 

„Gin Tonic.“, sagte er. 

Dankend lehnte ich ab. Ich wollte keinen Alkohol. Der Typ, der zwei Semester vor mir war setzte sich neben mich und suchte das Gespräch. Soweit ich mich Recht entsinnen konnte, hieß er Markus. 

„Lange nicht mehr gesehen.“, sagte durch die laute Musik hindurch. 

Ich lächelte höflich und ließ mich auf das Gespräch ein. Er wirkte ganz nett. Jemand näherte sich uns. Ein Mädchen, in meinem Alter. Sie beugte sich zu Markus hinunter und schrie ihm ins Ohr, ob er was habe. Zu erst verstand ich nicht. Doch dann griff Markus in sein Sakko und holte ein kleines Tütchen hervor. Das Mädchen reichte ihm einen Schein, nahm das Päckchen entgegen und verschwand dann wieder. 

„Speed.“, sagte er auf meinen fragenden Blick. 

Er holte ein weiteres Tütchen hervor, größer als das vorherige und legte es auf den Tisch. Dann klingelte sein Handy. Er schien abgelenkt, stritt sich mit jemanden. Bevor ich überhaupt wusste, was ich da tat, griff ich plötzlich zum Tütchen und machte mich aus dem Staub...

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt