Kapitel 22

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Kapitel 22: 

„Was für ein Unsinn redest du da eigentlich? Hast du zu viel getrunken?“, fragte Agron mich. 
„Nein. Ich hab gar nichts getrunken. Ich bin nüchtern. Mehr als nüchtern. Beantworte meine Frage. Hast du dir ein neues Opfer zu gelegt? Ist das der Grund, wieso du mich in Ruhe lässt?!“ 

Die Worte kamen ohne zu Zögern aus meinem Mund. Als hätte jemand einen Knopf in mir betätigt und mich angeschaltet. Vielleicht war ich das sogar selbst. Ja doch, das war ich selbst! 

„Und wer soll das bitte sein?“, wollte Agron wissen. 
„Besa.“, antwortete ich ruhig. 
„Was!? Besa? Bist du .. bist du verrückt geworden?! Als ob ich meine eigene Tochter .. das ist krank!“, zischte er.

Oh Gott. Ich hatte es gesagt. Ich hatte es wirklich gesagt! Verblüffung ersetzte die Gelassenheit in seinem Gesicht. Nicht nur Verblüffung. Offene Entrüstung. Stille folgte. Stille, in der ich erkannte, dass es die Art von Verblüffung war, die man nicht vortäuschen konnte. Agron sagte die Wahrheit. Gott sei dank, dachte ich mir, behielt meine Gedanken diesmal jedoch für mich. Er sagte es wäre Krank. Ja, das war vielleicht das richtige Wort. Aber es war nicht weniger krank, was er mir angetan hatte. Krank. Ehrenlos. Abscheulich. Widerlich. Mir fielen gar nicht genug Worte ein, um seine Taten zu beschreiben. 

„Du bist verrückt und paranoid geworden.“, durchbrach Agron schließlich das Schweigen. 
„Drei mal darfst du raten, wessen Schuld das ist.“, erwiderte ich tonlos. 

Er besaß so viel Anstand um seinen Blick von mir zu nehmen. Zitternd griff ich nach der Zigarette und dem Feuerzeug, den er mir hin hielt. Das war also für mich gewesen. Okay. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Zigarette anzünden. Einen tiefen Zug nehmen. Schon besser. Es war schon besser .. Mein Puls, der bis gerade eben noch gerast hatte, verlangsamte sich endlich. 

„Du kannst dir diesen .. absurden Gedanken aus dem Kopf schlagen. Unglaublich wie du auf die verrückte Idee gekommen bist, ich würde Besa ..“

Er hielt inne und fuhr sich durch seine blonden Haare. Die blauen Augen fixierten mich eingehend, studierten mich, durchbohrten mich. Er war wütend. Verdammt wütend. Wieso aber, war er so schockiert? Wieso war er so empört? Diese Fragen geisterten gerade durch meinen Kopf. Ich verstand es nicht, schließlich wusste er am besten wozu er fähig war. 

„Mach dich nicht unnötig krank.“, fuhr er fort und ging dann wieder ins Haus. 

Ich stand da und fror. Mir war richtig kalt, ich zitterte vor Kälte. Ein Gefühl der Leere machte sich in mir breit. Mach dich nicht unnötig krank, hatte er gesagt. Tat er nur so, oder wusste er nicht, dass ich schon lange krank war? Dass er mich krank gemacht hat? Dass er der Schuldige war? Vielleicht konnte man das als kleinen Erfolg ansehen, dass er mich in Zukunft in Ruhe lassen würde. Ja, vielleicht sollte ich glücklich sein. Aber das war ich nicht. Ich war nicht glücklich oder froh, ich war einfach nur leer. Wer garantiert mir, dass er mich nie mehr anfasst? Wer? Wer?! Niemand! Absolut niemand! Er könnte mich schon Morgen wieder anfassen. Oder in zwei Tagen. Oder in einer Woche. Er könnte seine Meinung ändern. Aus Lust und Laune. Aus Langeweile. Er könnte wieder gefallen an seinem Spiel finden. Aber nein! Nicht mit mir. Nicht mehr! Der Abend, an dem er mich nach Köln gefahren hatte, war ein Wendepunkt gewesen. Nach jahrelangem Schweigen, hatte ich mich gewehrt. Und das würde ich auch weiterhin tun. Ich wollte nicht mehr! Nie mehr! 

Den Jahreswechsel hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Meine Laune war nach der Konfrontation mit Agron am Boden. Am liebsten wollte ich einfach nach dieser Flasche Whisky greifen, die auf dem Tisch lag und mich in mein Zimmer verkriechen. Während die anderen sich zu amüsieren schienen, setzte ich mal wieder mein Fake Lächeln auf und spielte mit. Irgendwann nach 3 Uhr gingen schließlich alle schlafen. Was für eine Erleichterung! Obwohl Teuta meinte, ich solle auch ins Bett gehen, tat ich das Gegenteil. Putzen. Das brauchte ich jetzt. Ich räumte das Wohnzimmer auf, spülte das Geschirr und trocknete es anschließend ab. Nebenbei hatte ich meine Kopfhörer ins Ohr gesteckt. Das war meine Art, auf andere Gedanken zu kommen und es klappte wie fast jedes mal. Ich lächelte sogar vor mich hin, als das Türkische Lied erklang, das Kaan mir empfohlen hatte. Ein wunderschönes Liebeslied, vom dem ich nur einzelne Worte verstand. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt