Kapitel 19 :
Auch sein Körper neigte sich in meine Richtung, jedoch sprang ich auf, bevor ich er mich berührte.
„Ich geh mal schnell .. ehm .. den Verband holen.“, stotterte ich.
Mit schnellen Schritten ging ich wieder ins Bad, wo ich mich schwer atmend am Waschbecken fest hielt. Was war das? Was sollte das werden? Wollte er mich etwa küssen? Oh mein Gott! Natürlich wollte er mich küssen! Ich ließ den Wasserhahn laufen und spritzte mir ein paar Tropfen kaltes Wasser aufs Gesicht. Meine Wangen glühten und mir war so verdammt warm. Woran das wohl lag .. Ich schaffte es mich zusammen zu reißen und war kurz darauf wieder im Wohnzimmer, wo Kaan geduldig wartete. Gott sei Dank, tat er so, als sei nichts gewesen. Beim desinfizieren zuckte er nicht mal mit der Wimper. Ich musste an meine Wunden denken, wie ich jedes mal vor Schmerzen die Zähne zusammen biss, wenn das Alkohol auf meiner Haut brannte. Unbewusst musste ich lächeln.
„Was ist so komisch? Will auch lachen.“, sagte Kaan auf einmal.
„Hab nur dran gedacht, wie stark ihr Männer seid.“, antwortete ich.
„Frauen doch auch.“, grinste er.
„Nein, Frauen sind nicht stark. Sie tun nur so.“
Während ich ihm die Hand verband, sagte keiner von uns was. Meine Worte schienen ihn verunsichert zu haben, denn ich hatte praktisch zugegeben, dass ich nicht stark war. Ehrlich gesagt war ich selbst über meine Antwort verblüfft, denn normalerweise würde ich so etwas vor anderen Leuten niemals zugeben.
„So fertig.“, sagte ich anschließend.
„Danke. Du bist mein Schutzengel!“, antwortete er lächelnd. „Ab sofort nenne ich dich Engel.“
Er nahm meine Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. Seine Lippen war sanft und warm und hinterließen ein angenehmes kribbeln zurück. Engel? Er nannte mich Engel .. ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Mein Verstand arbeitete gerade nicht richtig, ich sah nur dieses wunderschöne Lächeln vor meinen Augen, das mein Herz zum rasen brachte.
„Du bist sicher müde, vielleicht solltest du schlafen gehen.“, sagte ich nach ein paar Sekunden.
„Wirfst du mich raus?“, meinte er schmunzelnd, stand dabei jedoch auf.
Ich setzte einen empörten Blick auf, woraufhin er nur auflachte und mir kurz in die Wange kniff. Wir gingen mittlerweile sehr vertraut miteinander um, das kam von den vielen Stunden, in denen wir uns im Gang unterhielten. Er ging voraus und ich folgte ihm. Als ich ihm die Tür aufhielt, zögerte er kurz.
„Ich ..“, sagte er.
Ich hatte das komische Gefühl, dass er mir gerade etwas bestimmtes sagen wollte, jedoch entschied er sich wohl anders, denn er wünschte mir nur noch eine Gute Nacht und bedankte sich nochmals.
Puh! Was für ein Abend, dachte ich mir, als ich ein paar Minuten später im Bett lag. Ich machte mir Gedanken über meine Gefühle, und versuchte diese zu unterdrücken .. aber Tatsache war nun mal, dass ich mich in Kaans Nähe sehr wohl fühlte. Und das machte mir Angst .. Probleme waren vorprogrammiert!
Freitag kurz vor Mitternacht hielten wir an einer Raststätte in Österreich, um auf Agron und Teuta zu warten, die wir ziemlich weit hinter uns gelassen hatten. Papa stieg aus um eine zu Rauchen, als Besa, die bei uns mitfuhr, nach vorne auf meinen Schoß kam.
„Tezja (Tante) Fin, sind wir bald da?“, nörgelte sie.
„Ja mein Schatz, nicht mehr lange. Wie wäre es, wenn du eine Runde schläfst?“
Sie schüttelte den Kopf und kuschelte sich in meine Arme. Mama und Oma waren mit dem Flugzeug voraus gegangen. Keine Ahnung wieso Agron sich nicht einfach die Fahrt erspart hatte und mit Teuta und den Kindern in den Flieger gestiegen war. Für mich kam das nicht in Frage, die Ticket Preise waren zum Teil enorm hoch und ich versuchte so schon sehr sparsam zu sein. Aber für Agron wäre das natürlich kein Problem gewesen. Ich sah aus dem Fenster und begutachtete die Schneelose Landschaft. Alles so trostlos. Mir kamen Kaans Worte in den Sinn, der mal meinte, dass ein Winter ohne Schnee langweilig wäre. Genauso wie die letzten Tage meines Lebens schon langweilig waren, ohne ihn. Ein absurder Gedanke, der mir da durch den Kopf ging, ich weiss. Aber so fühlte ich mich, und mittlerweile schaffte ich es nicht mehr, diese Gefühle zu verdrängen. Zugegeben, ich wollte es auch nicht, denn es tat mir gut. Besas kleine Kinderhand an meiner Wange, holte mich in die Gegenwart zurück. Sie streichelte mich und grinste mich dabei verschlafen an. Sogar ich war müde, was mein Gähnen zeigte.
„Bist du müde shpirti tezes (Tantes Liebling)?“, fragte ich liebevoll.
„Gefällt dir das Teze? Babi macht das auch immer.“
Mich traf der Schlag. Sofort war ich hellwach! Ich hörte wie das Blut in meinen Ohren rauschte, während ich versuchte das soeben Gehörte zu verdauen. Nein! Das würde er niemals machen. Das würde er seiner 5 Jährigen Tochter niemals antun. So krank war er nicht. Soweit würde er nicht gehen! Panik ergriff mich. Was wenn er es doch tat?!
„Was macht er noch? Macht er noch was? Fol! (Rede!)“, brüllte ich angsterfüllt.
Ich packte die halb verschlafene Besa an den Armen und rüttelte an ihr. Sie musste mir sagen, dass er nichts tat. Sie musste mir sagen, dass meine Angst unbegründet war. Die Kleine schien ein wenig verwirrt, rieb sich müde die Augen und meinte daraufhin, dass sie wieder nach hinten wolle, aber ich ließ sie nicht los. Ich musste Klarheit haben!
„Was machst du sonst noch so mit Babi?“, hackte ich nach, diesmal jedoch eine Spur sanfter.
„Wir spielen.“
„Was .. was spielt ihr denn?“, flüsterte ich.
„Verschiedene Spiele.“, antwortete sie total unschuldig.
„Was sind das für Spielen?! Erklär sie mir!“, so langsam fing ich an die Geduld zu verlieren.
„Wir spielen Karten und mit meiner Puppe. Und mit Flamurs Legosteinen.“
„Sonst nichts mehr?“
Sie legte ihren Kopf schief, ihre kleinen Löckchen fielen zur Seite. Sie schien kurz nachzudenken, schüttelte dann jedoch kräftig mit dem Kopf. Eine Welle der Erleichterung durchflutete meinen Körper. Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Anschließend ließ ich sie wieder nach hinten gehen. Meine Reaktion zeigte mir, wie paranoid ich geworden war. Aber ich schwöre euch, alleine der Gedanken, dass er das selbe mit Besa machen konnte, ließ mich ein stechen im Herz spüren. Bittere Wut kochte in mir hoch, allerdings musste ich mich jetzt zurückhalten, da Papa wieder einstieg.
Die nächsten Stunden waren so schlimm gewesen. Ich hatte mir meine Kopfhörer ins Ohr gesteckt und hörte Musik, aber es brachte einfach nichts! Selbst mit geschlossenen Augen, sah ich immer wieder Agron vor mir. Der Kloß in meinem Hals, ließ mich kaum mehr Luft nehmen und auch das flaue Gefühl im Magen, machte mir zu schaffen. Ich konnte nicht still halten. Ertappte mich sogar dabei, wie ich ans Ritzen dachte. Wie ich jetzt die Klinge durch meine Haut ziehen würde, und den Schmerz in mich eingesaut hätte. Eigentlich hatte ich vor gehabt, Papa beim Fahren abzulösen, aber dazu war ich bestimmt nicht in der Lage. Meine Finger zitterten. Wahrscheinlich würde ich es nicht mal schaffen, das Lenkrad zu halten. Das war so dumm von mir, da es ja eigentlich nichts zu befürchten gab!? Seit Wochen ließ Agron mich in Ruhe, er hatte bestimmt eingesehen, dass es falsch war. Vielleicht würde er sich sogar irgendwann entschuldigen? Absurder Gedanke! Das würde niemals passieren .. Aber wie heißt es so schön? Sag niemals nie!
Die Fahrt kam mir unendlich lang und anstrengend vor. Meine Muskeln waren steif, mein Rücken tat weh und das schlimmste war, dass ich diesen entsetzlichen Gedanken nicht loswerden konnte. Ich kam mir vor als säße ich in einem Zug, gefangen in einem Waggon. Keine Menschenseele war da, nur meine Gedanken und ich. Ich suchte nach einen Ausweg, doch da war keiner .. ich war allein und die Stimmen in meinen Kopf wurden immer lauter. Übertönten meine verzweifelten Schreie. Selbst der Lärm des Zuges war durch die Stimmen nicht mehr wahrzunehmen. Sie ließen mich schwitzen und frieren zugleich. Jagten mir Angst ein und ließen mich erschaudern. Ich verspürte einen Schmerz in meiner Brust und meine Lunge brannte. Als würde jemand direkt in meine Seele greifen und mich dort zerquetschen. Ich sah um mich herum und jagte die Schatten. Links, Rechts. Er war da. Ich sah ihn nicht, aber ich spürte ihn. Ich roch ihn. Ich nahm ihn wahr. Sein Atem strich mir über mein Gesicht, über meinen Hals und ließen mich erzittern. Mir ging die Luft aus, der Sauerstoff wurde knapper ...
„Dafina! Was ist denn los?“
Eine Hand hatte sich um meinem Arm gelegt. Ich schlug sie reflexartig weg und riss die Augen auf. Keuchend schnappte ich nach Luft und versuchte mich zu beruhigen. Teuta kniete neben mir und musterte mich besorgt. Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass wir endlich da waren. Ich war vollkommen durchnässt. Ich spürte die Feuchtigkeit unter meinem dicken Pullover hindurch, und meine Jeans klebten an meine Beine. Durch die Kälte, die von der offenen Wagentür eindrang, legte sich einen Gänsehaut auf meinen Körper. Ich hätte schwören können, dass ich kein Auge zugedrückt hatte. Aber wie es aussah, war ich tatsächlich eingenickt.
„Du hast so herum gezappelt, ich glaube du hast schlecht geträumt.“, sagte Teuta.
„Kann sein.“, gab ich leise zurück.
„Weisst du denn über was du geträumt hast?“
„Nein.“
„Sicher?“, bohrte sie nach.
„Ja, sicher.“
Es war ein Lüge. Ich sah noch alles direkt vor meinen Augen. Manchmal frage ich mich, wann ich angefangen hatte, so dreist zu Lügen. Ohne jeglichen Scham oder Gewissensbisse zu haben. Irgendwann wurde mir klar, dass es einfach notwendig war. Um mich selbst zu schützen. Um die anderen zu schützen. Um mein dunkles Geheimnis zu hüten. Teuta nahm die schlafende Besa aus dem Wagen und ging ins Haus, wo Mama und Oma bereits auf uns warteten. Papa und Flamur waren voraus gegangen. Und Agron? Der stand hinter dem Kofferraum seines Autos und gab vor, nach irgendwas zu suchen. Ich spürte seinen Blick aus den Augenwinkeln auf mich haften. Am liebsten würde ich ins Haus rennen, aber ich war noch recht wackelig auf den Beinen, weshalb ich mich gegen unseren Wagen lehnte und tief Luft nahm. Ich brauchte ein paar Sekunden um mich nach der Fahrt und dem Traum zu fassen. Innerlich war ich total aufgewühlt.
„Können wir kurz reden?“, fragte er mich auf einmal.
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Lautlose Schreie
General FictionDafina ist angehende Jura Studentin. Sie zieht von Mannheim nach Köln, wo sie an der Seite ihres besten Freundes studieren wird. Sie ist ein ganz normales Mädchen, doch der Schein trügt. Eine Kindheit voller schlimmer Erinnerungen, ein Schwager, der...