Kapitel 65:
Seite an Seite stiegen wir die Treppen in den ersten Stock hinauf und schon in der ersten Wohnung, hing der Name Arslan in großen Druckbuchstaben an der Tür. So wie in Köln, schoss es mir durch den Kopf. Mergim Griff an meiner Hand wurde stärker, er sah mich kurz an und legte dann den Finger auf die Klingel. In mir drinnen herrschte eine große Aufruhr, ein flaues Gefühl macht sich in meinem Magen breit und eine eisige Gänsehaut erfasste meinen Körper. Oh mein Gott, hilf mir! Die Tür sprang auf. Eine junge Frau stand lächelnd da.
„Ja, bitte?“, fragte sie uns.
Ich war wie vom Donner gerührt. Mein Blick wanderte zu Mergim und ich sah, wie er die Frau mit großen Augen anstarrte. Wisst ihr warum? Ich weiß nicht genau, ob es Zufall war, aber die Brünette sah mir wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Die Ähnlichkeit war echt verblüffend. Die selben braunen Haare, die selben grünen Augen, die selben Gesichtszüge. Ich stand echt unter Schock und musste diesen Anblick erst einmal verdauen.
„Wie kann ich ihnen helfen?“, sprach die Frau weiter.
Mergim fand vor mir seine Stimme wieder.
„Ich .. also wir wollten zu Kaan.“, antwortete er.
„Wir sind Freunde von ihm.“, fügte ich schnell hinzu.
Meine Stimme bebte. Mergim muss es gemerkt haben, denn er drückte meine zitternde Hand und warf mir einen Blick zu, der so viel heißen sollte wie: 'Beruhige dich, ich bin da.' Selbst wenn die Frau etwas gemerkt haben sollte, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie setzte ein strahlendes Lächln auf und bat uns herein.
„Hier lang, Herr Arslan ist im Wohnzimmer.“, sagte sie freundlich.
Herr Arslan also. Sie war wohl weder seine Freundin, noch seine Frau. Obwohl es mich sowieso nicht interessiert hätte. Oder etwa doch? Ich bat Gott um Geduld, während wir das große Wohnzimmer betraten. Es war mir schon direkt am Anfang aufgefallen, dass die Wohnung riesig sein musste. Mein Blick schweifte durch den Raum und dann blieb mein Herz stehen. In einer Sekunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, saugte ich diesen Anblick auf, der sich mir dort erbot. Kaan küsste eine alte Frau auf die Stirn und ging dann vor ihr in die Hocke. Er nahm ihre Hände, hauchte Küsse darauf und sprach liebevoll auf sie ein. Obwohl er laut und deutlich zu sprechen schien, hallte der Klang seiner Stimme wie aus weiter Ferne in meinen Ohren wieder. Die ganze Szene kam mir so surreal vor. So unwirklich. So unglaubwürdig. Ich mein, das war doch ein und derselbe Kaan? Der Kaan, der mich von vorne bis hinten verarscht hat. Der Kaan, der mit mir, wie mit einer Puppe gespielt hat. Der Kaan, der für all das, was mir passiert war, verantwortlich war. Wie kann jemand, der so fürsorglich mit seiner Mutter umgeht, so ein skrupelloser Frauen Verarscher sein? Er sprach zwar Türkisch, aber das Wort Anne (Mutter) hatte ich herausgehört. In meinem Kopf machte das ganze gerade überhaupt keinen Sinn!
„Herr Arslan, sie haben Besuch.“, sagte die Frau schließlich.
Doch erst als Kaan sich erhob und seine Augen, die meinen fanden, fiel ich aus meiner Trance.
„Was macht ihr hier?“, fragte er.
Seine Stimme klang relativ gefasst, aber es war nicht zu übersehen, dass unser Kommen ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.
„Hast du gedacht, dass du einfach so abhauen kannst?“, zischte Mergim.
„Oglum (Sohn), wer sind die beiden?“, fragte die alte Frau, die ich nun, nachdem ich genauer hinschaute, auf Anfang 50 schätzte.
Kaan antwortete nicht, sondern sah sie nur an. Mehrere Sekunden verstrichen.
„Aylin, bring sie in ihr Zimmer.“, flüsterte er kurz darauf, ohne den Blick von seiner Mutter zu nehmen.
„Üzgünüm efendim, ich habe gedacht, dass ..“
„Bring sie in ihr Zimmer hab ich gesagt!“, brüllte Kaan auf einmal und schnitt der Frau, die uns reingelassen hatte, so das Wort ab.
Ich sah zu, wie sie mit hochrotem Gesicht und gesenktem Kopf einen .. Rollstuhl aus der Ecke des Zimmer holte. Stück für Stück klappte mir die Kinnlade herunter. Die junge Frau, die Aylin hieß, hievte mit Kaans Hilfe dessen Mutter auf das Rollstuhl und schob sie an uns vorbei. Ich weiß nicht genau wieso, aber ich wagte es nicht ihr ins Gesicht zu schauen. Stattdessen starrte ich auf den Boden und wartete, bis ich mir zu 100% sicher war, dass sie das Zimmer verlassen hatte. Ein tiefer Seufzer ließ mich schließlich hochfahren. Kaan fuhr sich durch die Haare und atmete tief ein und aus. Eine Geste, die mir so vertraut und gleichzeitig doch so fremd erschien. Bevor ich überhaupt die Zeit hatte, das Geschehene zu analysieren, ließ Mergim plötzlich meine Hand los und stürmte auf Kaan zu. Er riss ihn zu Boden und verpasste ihm einen Faustschlag.
„Mergim!“, stieß ich mit erstickter Stimme hervor.
Weitere Schläge folgten und was machte Kaan? Rein gar nichts! Er wehrte sich nicht, schlug nicht zurück. Er ließ Mergim einfach auf sich einprügeln. Mit Knien, die sich wie Wackelpudding anfühlten, zerrte ich nun an Mergim Ärmel. Nur mit Mühe schaffte ich es, ihn von Kaan loszureißen.
„Gimi bitte ..“, flehte ich mit bebender Stimme.
Ich legte meine Hände gegen seine Brust, die sich viel zu schnell hob und senkte. Mit keuchenden Atem sah er mir in die Augen. Der Hass und die Wut aus seinem Blick verschwand allmählich. Kaan rappelte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken, das Blut vom Mundwinkel.
„Ist okay. Ist okay, hab es verdient.“, murmelte er vor sich hin.
„Du hast noch viel mehr verdient!“, brüllte Mergim.
Kaan lächelte. Es war eines dieser Lächeln, mit denen er mir damals den Verstand geraubt hatte. Mergim biss als Antwort darauf, die Zähne zusammen. Mir zu liebe, denn ich flehte ihn mit meinem Blick an, sich zusammen zu reißen.
„Also, nochmal von vorne. Was macht ihr hier?“
Ich wand mich wieder Kaan zu.
„Ist das nicht offensichtlich?“, fragte ich.
„Nichts im Leben ist offensichtlich. Nichts im Leben ist klar, nichts ist so, wie es aussieht.“
„Hör auf so dumm herum zu labern!“, mischte Mergim sich ein.
„Vielleicht willst du mich zur Polizei bringen, vielleicht willst du mich solange foltern, bis ich dir sage, wer dir das angetan hat. Wieso er dir das angetan hat.“
Er ignorierte Mergim und sah mir unverwandt in die Augen.
„Wobei ich zur letzten Frage, keine Antwort habe. Oder vielleicht täusche ich mich, und du bist gekommen, weil du mich wieder zurück haben willst.“, fuhr er fort und setzte wieder dieses Lächeln auf, sodass seine Grübchen zum Vorschein kamen.
„Halt die Fresse, du elender Bastard!“, schrie Mergim ihn an.
Ich griff nach dessen Hand und hielt ihn zurück. Ich ließ ihn mit meinem Blicken wissen, dass alles okay war, dass mich Kaans Worte nicht im Geringsten berührten, aber in Wirklichkeit war dem nicht so. Ich war ein Wrack, mehr als ein Wrack. Meine Seele ertrank in der Flut von Emotionen und versuchte sich krampfhaft an ein Stück Holz im Ozean zu klammern. Aber äußerlich ließ ich mir nicht anmerken, der Kampf tobte in meinem Inneren.
„Ich werde dir alle sagen, was du wissen willst, alles was ich weiß. Unter einer Bedingung.“
„Du bist nicht in der Position um Bedingungen zu stellen!“, brüllte Mergim dazwischen.
„Unter einer Bedingung.“, wiederholte Kaan seine Worte und blickte mir nach wie vor in die Augen.
„Und die wäre?“, fragte ich vorsichtig.
„Nur du .. und ich. Unter vier Augen, allein.“, antwortete er.
„Vergiss es.“, sagte Mergim und lachte laut auf.
Aber ich lachte nicht. Auch Kaan lachte nicht. Er verzog keine Miene und nahm seine Augen nicht von mir. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Situation abzuschätzen. Er meinte es ernst. Er würde kein Wort sagen. Nicht bevor Mergim und allein lassen würde. Ich drückte Mergim Hand und suchte seine Augen. Er schien zu ahnen, was ich sagen wollte, denn er schüttelte ungläubig mit den Kopf.
„Ich muss.“, flüsterte ich.
Und das musste ich wirklich. Ich musste alles wissen, ich musste verstehen. Ich brauchte diese Antworten, sie waren der Schlüssel zu allem.
„Du bist doch vor der Wohnung. Wenn was passieren sollte, dann rufst du die Polizei.“
Er wollte widersprechen. Er wollte losschreien und sagen, dass das nicht in Ordnung war. Er wollte Kaan tot prügeln und mich von hier wegschaffen. Mich in Sicherheit bringen. Aber er tat nichts von alldem, sondern nickte einfach nur schwach. Zu meiner großen Erleichterung. Er verließ das Zimmer, wenn auch zögernd und kurz darauf fiel die Wohnungstür laut ins Schloss. Von Kaans Mutter und dieser Aylin, war keine Spur. Wir waren allein. Nur er .. und ich. Misstrauisch verschränkte ich die Arme vor der Brust und wartete. Kaans Augen wanderten über meinen Körper.
„Du hast abgenommen.“, stellte er fest.
Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern seufzte einmal tief und setzte sich dann. Mit einem Kopfbewegung deutete er an, es ihm gleich zu tun. Stumm folgte ich seiner Anweisung.
„Also, wo fangen wir an?“
Er dachte einen Moment lang nach.
„Es tut mir leid.“, fuhr er schließlich fort.
„Was genau denn?“
„Alles, einfach alles.“
„Das macht es nicht rückgängig. Nichts von alldem, was ich durchmachen musste, wird dadurch rückgängig gemacht. Deine Entschuldigung ist wertlos.“
„Ich weiß, ich wollte nur ..“
Seine Stimme stockte und für eine Sekunde, sah ich den Schmerz in seinen Augen auflodern. Er lehnte sich zurück und atmete tief aus.
„Ich werde dir alles erzählen. Vielleicht wird es dich schockieren .. nein. Es wird dich schockieren. Aber nur so, kann ich mit mir im Reinen sein.“
Meine Ungeduld stieg ins Unermessliche. Es war ein furchtbares Warten, während ein Messer am höchsten Punkt in der Luft hing und darauf wartete zu zu stechen. Mit der Wahrheit, mit der bitterbösen Wahrheit. Jetzt, wo ich kurz davor stand alles zu erfahren, schrie ein Teil von mir nach Rückzug.
'Hau ab. Hau ab. Hau ab, solange du.'
Im Nachhinein denke ich, dass es vielleicht besser so gewesen wäre. Wenn ich in diesem Moment aufgeben und einen Schlussstrich gezogen hätte. Wenn ich einfach mit Mergim an der Hand, zurück nach Köln gefahren wäre und das Beste aus meinem zerstörten Leben gemacht hätte. So wäre das Leben vieler anderer verschont geblieben. Aber Gott wollte es nicht so. Er wollte, dass ich hier bin und mir das anhöre.
„Es war von Anfang an geplant. Alles war geplant.“
Kaans Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Geplant? Ich verstand nicht...
„Es war perfekt eingefädelt, du konntest gar nicht anders, als in die Falle zu tappen.“
Ich verstand immer noch nicht .. aber ich würde verstehen. In ein paar Minuten würde ich verstehen, alles würde Sinn machen.
„Es war dein Schwager. Agron.“
Sein Name prallte mit solcher Heftigkeit gegen mich, dass ich zurück zuckte. Der Vulkan, der bislang in mir gebrodelt hatte, war ausgebrochen. Ein Zittern überfiel meinen Körper. Erst langsam, dann immer schneller. Es breitete sich aus wie ein Virus und nach ein paar Sekunden zitterte ich wie Espenlaub. Es ging bis in die Fingerspitzen und raubte mir den Atem. Ich verstand immer noch nichts, aber da war eine Flut von Emotionen. Die Angst, das Entsetzten, die Panik .. sie ließen mich nach Atem ringen.
„Er ist für alles verantwortlich. Er ..“
Ich hob meine zitternde Hand und brachte ihn so zum schweigen. Mein Herz pochte gegen meine Brust, die so eng geworden schien, dass ich fast nicht mehr atmen konnte. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und brauchte noch einen Moment um mich auf das Kommende gefasst zu machen, denn ich spürte, dass es heftig werden würde..._____________________
Würde mich freuen, wenn ihr ein Kommentar hinterlässt und für das Kapitel votet :)
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Lautlose Schreie
General FictionDafina ist angehende Jura Studentin. Sie zieht von Mannheim nach Köln, wo sie an der Seite ihres besten Freundes studieren wird. Sie ist ein ganz normales Mädchen, doch der Schein trügt. Eine Kindheit voller schlimmer Erinnerungen, ein Schwager, der...