Kapitel 62

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Kapitel 62 : 

„Darf ich reinkommen?“, fragte er leise. 

Die Hände in den Hosentaschen, mit leicht gesenkten Kopf stand er da. Aber er sah mich an, direkt in die Augen und dann nickte ich vorsichtig, kaum merklich. Ich trat zur Seite und ließ ihn rein, meine Lippen waren fest aufeinander gedrückt, ich hielt irgendwie die Luft an. Es kam zu schnell, dieses Aufeinandertreffen. Ich war nicht vorbereitet und hatte nicht einmal Zeit gehabt, richtig über Mergim nachzudenken. Über die Worte die Arjeta mir im Brief hinterlassen hatte. Über seine Position, seine Stellung in dieser ganze Sache, die so verdammt kompliziert war. 

„Bevor du denkst ich stalke dich .. Teuta und Agron haben mich gebeten bei der Wohnungssuche zu helfen.“, sagte er und sah sich im Flur um. 

Ehrlich gesagt hatte ich mir diese Frage tatsächlich schon in der ersten Sekunde als er vor der Tür stand gestellt, aber ja. Ich deutete mit einer Handbewegung Richtung Wohnzimmer. Er nickte und ging mir voraus, während noch immer kein Ton von meinen Lippen kam. Anschließend setzte er sich, wenn auch mit kurzen Zögern, auf die Couch. Meine Hände schwitzten, oh Gott. Ich setzte mich ebenfalls, jedoch auf die andere Couch, möglichst weit von ihm entfernt. Und mein Herz raste, genauso, wie meine Gedanken. Sie schienen keine Sekunde still zu halten.

„Sieht gut aus.“, sagte Mergim und ließ dabei seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. 
„Danke.“, antwortete ich leise, nachdem ich endlich den Mund auf bekam. 

Irgendwie komisch über die Einrichtung meiner Wohnung zu reden. Als ob es nicht tausend andere, viel wichtiger Dinge gab, über die wir uns unterhalten müssten. Meine verschwitzten Hände lagen auf meinen Schoß, während sich nun bedrückendes Schweigen ausbreitete. Es war so leise, so still. Wir saßen im selben Raum, zwei Meter von einander entfernt und doch schien er so weit weg von mir .. so entfernt. Als ob da eine große Wand zwischen uns wäre und er sich nicht traute rüber zu klettern, weil er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Ganz ehrlich, mir ging es nicht viel anders.

„Weißt du alles?“, fragte ich. 
„Ja.“
„Arjeta?“

Er nickte, eine kurze Pause folgte. 

„Das Parfüm ..“, sagte ich schließlich. 
„One Million, das trägt jeder zweite. Hab es vor kurzem auch gekauft.“
„Wie .. wie bist du zum Haus ..“
„Arjeta hatte mir schon am Vortag geschrieben, hab die Nachricht erst am Morgen gesehen und bin dann losgefahren. Als ich vor eurem Gebäude hielt, wart ihr grade am wegfahren und dann ..“
„Bist du uns gefolgt.“, beendete ich seinen Satz. 

Erneut nickte er. Nach wie vor wusste ich nicht, was ich denken sollte. Was ich fühlen sollte. Aber selbst wenn da noch ein kleiner Funken Zweifel in mir gewesen war, Zweifel an Mergims Unschuld, so wurde sie doch mit dieser Träne, die ihm gerade die Wange herunter kullerte, weggespült. 

„Ich war es nicht.“, flüsterte er.
„Ich weiß.“, kam als Antwort. „Es tut mir leid.“, fügte ich hinzu. 

Vergeblich versuchte ich das Zittern meiner Stimme zu verstecken und die Tränen zurückzuhalten. Immer wieder wischte ich mir über die Wangen, nur um Platz für neue, frische Tränen zu machen. Wie konnte ich nur denken, dass er .. wie konnte ich nur?! Ich war so dumm gewesen! Mergim hob seinen Blick und sah mir wieder in die Augen. Auf seinem Gesicht lag ein schmerzerfüllter Ausdruck, der mir so ein schlechtes Gewissen machte.

„Mir tut es leid. Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir!“, flehte er mit Tränen in den Augen. 
„Wieso entschuldigst du dich? Du hast nichts gemacht.“
„Doch. Ich war nicht da. Ich war nicht da, um dich zu beschützen, ich war nicht da, als du mich gebraucht hast, ich war nicht da, als man dir schlimmes, schreckliches angetan hat.“
„Mergim... Gimi, es ist nicht deine Schuld ..“
„Ich war nicht da, obwohl ich dir versprochen hatte, immer für dich da zu sein.“
„Du bist jetzt da!“, versuchte ich ihn zu beruhigen. 
„Was bringt das? Es ist schon passiert. Verstehst du das denn nicht Dafina? Ich bin ein Versager, ich habe versagt, ich kann nicht mal das beschützten, was ich liebe ..“

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt