Kapitel 46 :
Wie in Trance versunken starrte ich auf die Klinge. Ein Rauschen in meinen Ohren, übertönte das laute Hämmern an der Tür. Ich brauchte es. Ich brauchte diesen körperlichen Schmerz, um mich lebendig zu fühlen. Um zu fühlen, dass ich noch da bin. Ich sah in den Spiegel und was ich sah, gefiel mir überhaupt nicht. Dieser Selbsthass zerfraß mich. So dumm, so naiv, so schwach. Und dann machte es bumm. Die Tür flog mit einem lauten Knall auf und Kaan stand im Bad. Er kam auf mich zu, nahm mir die Klinge aus der Hand. Meine Augen blieben an meinen Fingern kleben. Blut. Frisches Blut, das mir die Hand entlang lief. Ich hatte die Klinge wohl zu fest zwischen den Fingern gehalten. Kaan drückte mir einen Lappen auf die Hand und nahm mich gleichzeitig in den Arm.
„Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ich bin da, okay. Du bist nicht allein mein Engel.“
Nicht allein? Ich war schon lange allein. Allein mit meinen Gedanken, allein mit meinem Schmerz, allein mit meinen Geheimnissen. Seit Jahren. Kaan sprach beruhigend auf mich ein und wischte mir die Hand sauber. Mein Gesicht blieb ausnahmsweise mal trocken. Keine Tränen. Nur dieser Druck in meinem Inneren, der sich mit jedem Atemzug legte. Ich ließ mir einen kleinen Verband anlegen, obwohl ich fand, dass das nicht nötig war. Kaan strich mir die Haare aus dem Gesicht und entschuldigte sich, zum gefühlten 100. mal. Er drückte mir einen langen Kuss auf die Stirn, gefolgt von einer Liebeserklärung, die ich gar nicht richtig wahr nahm. Er führte mich wieder ins Wohnzimmer, wo noch immer dieser unangenehme Geruch in der Luft lag. Angewidert verzog ich das Gesicht und schüttelte dabei ungläubig meinen Kopf. Heftig, einfach heftig das Ganze.
Ein paar Stunden schon, lag ich nun im Bett. Eingewickelt in meiner Decke, hatte ich die Knie eingezogen und wippte vor und zurück. Unaufhörlich bewegte ich meinen Körper, in der Hoffnung, dass ich so meine Gedanken abschalten könnte. Und es funktionierte. Für ein paar Minuten zumindest. Erst war alles leer und dunkel. Doch dann füllte sich mein Kopf, mit den schmerzhaften Erinnerungen, die mir Tag für Tag auf der Seele lagen. Die mir die Luft zum Atmen nahmen, und mir immer wieder bewusst machten, wie feige und schwach ich doch war. Und das tat dann wieder weh. Nicht wie dieser körperliche Schmerz, nein. Keine Ohrfeige, keine Faust, kein Tritt, war vergleichbar mit dem, was sich im Inneren meines Körpers abspielte. Es klopfte, und ohne auf eine Antwort von mir zu warten, öffnete sich die Tür unter leisem quietschen. Kaan trat ein, setzte sich an den Bettrand und blickte mich traurig an.
„Kommst du bitte was essen?“, fragte er mich.
Wortlos schüttelte ich den Kopf.
„Nur ein bisschen?“
„Nein.“, flüsterte ich.
„Ich kann es dir hier her bringen.“
„Nein, ich habe keinen Hunger Kaan.“
„Lehnst du etwa mein Essen ab? Es schmeckt so gut, dass du dir die Finger ablecken wirst.“Er ließ nicht locker. Theatralisch leckte er sich die Fingerspitzen ab und versuchte mich zum Lachen zu bringen. Vergeblich. Sein Humor, den ich sonst so sehr liebte, war in diesem Moment einfach Fehl am Platz. Mir ging es zu beschissen, um zu Lachen. Wahrscheinlich würde ich es nicht einmal schaffen, meine Mundwinkel zu heben. Ein weiteres mal schüttelte ich den Kopf. Er wirkte enttäuscht, aber sagte nichts mehr. Er küsste mich auf die Wange, sagte mir, dass er mich liebt und ging dann endlich aus dem Zimmer.
Es dauerte nur eine halbe Stunde, als es erneut an der Schlafzimmertür klopfte. Ich hob meinen Kopf, sah Kaan an der Türschwelle stehen und wollte schon losbrüllen, dass ich verdammt noch mal nichts essen wollte, als Arjeta plötzlich neben ihm trat.
„Ich bin im Wohnzimmer, falls ihr was braucht.“, sagte Kaan und schloss die Tür.
Was ich jetzt brauchte, stand in diesem Zimmer und sah mich mit diesem sanften Blick an, der mir augenblicklich Tränen in die Augen trieb. Ich richtete mich auf, Arjeta fiel neben mir auf das Bett und schloss mich in ihre Arme. Sie war diejenige gewesen, die mich über die letzten Monate immer wieder aufgebaut hatte. Diejenige, die nie von meiner Seite gewichen war und immer zu mir gestanden hatte. Diejenige, die ich mittlerweile nicht mehr aus meinem Leben wegdenken konnte.
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Lautlose Schreie
General FictionDafina ist angehende Jura Studentin. Sie zieht von Mannheim nach Köln, wo sie an der Seite ihres besten Freundes studieren wird. Sie ist ein ganz normales Mädchen, doch der Schein trügt. Eine Kindheit voller schlimmer Erinnerungen, ein Schwager, der...