Kapitel 61

6.9K 283 11
                                    

Kapitel 61 :

Es war ziemlich kalt draußen, regnerisches Oktoberwetter. Ich war noch immer unendlich traurig, dass ich nicht zu Arjetas Beerdigung konnte. Ihr Selbstmord nahm mein ganzes Denken und Leben in Beschlag und ließ sogar meine Vergewaltigung in den Hintergrund rücken. Wenn ich so richtig darüber nachdachte, da hing das ganze doch irgendwie zusammen. Ich fuhr nicht schnell, ließ mir Zeit um möglichst viel Kraft zu tanken und dachte dabei an Kaan. Wo war er? Es war alles so verwirrend, ein reines Chaos, Fragezeichen hingen in der Luft und sie vermehrten sich stündlich. Der Schmerz des Verlustes, so plötzlich, so niederschmetternd, es tat weh. Das schlimmste aber waren die Schuldgefühle, auch wenn Arjeta das mit dem Brief nicht beabsichtigt hatte. Der Gedanke, dass ich es eventuell verhindern könnte, er war unerträglich. Nach einer langen Autofahrt kam ich schließlich in Köln an. Ich weiß nicht ob es instinktiv passiert war, aber ich machte einen großen Bogen um die Innenstadt. Ich parkte den Wagen und stieg aus. Dann steckte ich mir eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und wartete. Ich wartete darauf, dass ich endlich den Mut fand, um in dieser scheiß heruntergekommenen Gegend, in dieses scheiß Wohngebäude zu gehen. Zu Kujtim. Vielleicht war es dumm alleine hier her zu kommen. Ich stellte die letzten Tage sowieso meine Intelligenz in Frage, da ich oftmals so dumm und unüberlegt gehandelt hatte. Vielleicht war ich sogar zu Naiv für eine Jura Studentin. Ich hatte keine Kontrolle über mein Impulsives Handeln, das mir so teuer zu stehen gekommen war. Aber auch diesmal konnte ich nicht anders. Polizei einschalten kam für mich nicht in Frage. Denn ich hatte keine Beweise außer diesen Brief und Arjeta wollte nicht, dass dieser an die Öffentlichkeit gelangt. Ich glaube die Nachricht, dass ihre Tochter zu einer Prostituierten geworden war, würden das Ehepaar Kabashi direkt in den Grab schicken. Das würde ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können. Ich konnte mich niemanden anvertrauen, ich musste das selber durchziehen...

Obwohl es so kalt draußen war, blieb ich eine ganze Weile hier stehen. Irgendwann warf ich die Zigarette auf den Boden, drückte sie aus und pustete in meine kalten Hände. Ich musste das durchziehen. Jetzt! Ich überquerte die Straße und öffnete die große Eingangstür, die halb kaputt war. Mühevoll stieg ich nun etliche Treppen hoch, bis ich völlig außer Atem die 7. Etage erreichte. Hier nahm ich mir wieder ein paar Minuten Zeit. Ich war körperlich noch ziemlich schwach und fragte mich, wie ein Mensch in wenigen Tagen so dermaßen abmagern konnte. Ein Gürtel hielt die Jeans an meinen Hüften fest und sorgte dafür, dass sie mir nicht herunter rutschte. Die Knochen meiner Schlüsselbeine standen deutlich hervor und auch meine Wangen waren komplett eingefallen. Ich hatte keine Zeit mehr, um in Selbstmitleid zu wühlen, denn die Tür der Nachbars Wohnung sprang auf. Eine Frau steckte ihren Kopf durch die Tür und musterte mich neugierig.

„Brauchst du Stoff?", fragte sie mich auf einmal.

Da diese Frage völlig unerwartet kam, blickte ich sie etwas irritiert an. Wobei ich es ihr eigentlich nicht wirklich verübeln konnte. Wahrscheinlich sah ich aus wie eine drogenabhängige, die den letzten Euro ihres Hartz 4 Geldes verprassen wollte. Aber tatsächlich hatte ich seit dem Speed nichts zu mir genommen, selbst das Verlangen danach war weg, da ich traumlose Nächte hatte. Ein Weltwunder, ich weiß! Ich schüttelte als Antwort auf die Frage der Frau einfach mit den Kopf.

„Aber du willst doch zu Koko, ich hab besseren Stoff als er.", ließ sie nicht locker.

„Koko?", fragte ich verwirrt.

Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür von Kujtim und nun verstand ich.

„Ist er denn da?", wollte ich wissen.

„Ja, der gammelt doch eh den ganzen Tag auf seiner Couch und lässt andere anschaffen gehen."

Bei dieser Aussage fuhr Gänsehaut durch meinen Körper, ich hielt mich am Treppengeländer fest. Die Frau ruderte sofort wieder zurück, als sie meine Reaktion sah.

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt