Kapitel 59

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Kapitel 59 : 

Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, nur um in der nächsten Sekunde, wie verrückt gegen meine Brust zu hämmern. Sie hatte aufgelegt und dieser Brief .. oh mein Gott! Ich musste handeln! Sofort! Aber .. wie? Sie meinte sie wäre in einem Hotel .. aber woher zum Teufel sollte ich wissen in welchem? Meine Finger zitterten, während ich versuchte den Wagen zu starten. Und dann schoss es mir durch den Kopf. Am Anfang ihrer Beziehung mit Kujtim, hatte sie mal ein Hotel in der Innenstadt erwähnt, bei dem die Aussicht so schön gewesen war. Mir fiel der Name nicht ein, aber ich wusste wo es lag. Ich drückte aufs Gaspedal und raste los. Ich verfluchte den dichten Verkehr und sah zu, wie es zu dämmern begann. So viele entsetzliche Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher, so viele Fragen, zu denen ich gerade keine Antworten parat hatte. Aber eines wusste ich, Arjeta war dabei, etwas schlimmes zu tun. Meine Kehle war wie zugeschnürt, das Atmen viel mir so schwer. Unaufhörlich formten sich meine Lippen nun zu einem stummen Gebet. Endlich erreichte ich die Innenstadt. Unweigerlich verlangsamte ich mein Tempo, mich überkam schlagartig ein komisches Gefühl. Aus den Augenwinkeln sah ich immer wieder Schatten aufblitzen, die mich verfolgten. Drohte ich jetzt völlig den Verstand zu verlieren, oder waren dies einfach nur die Nebenwirkungen vom Speed? Ich fing schon an zu halluzinieren und trat dann so plötzlich auf die Bremse, dass ich gegen das Lenkrad knallte. Zirka 20 Meter vor mir, sah ich eine große Menschenmasse, die sich .. die sich vor dem Eingang eines Hotels versammelt hatten. Ich stoppte mitten auf der Straße und sprang ohne den Motor auszuschalten aus dem Wagen. Meine Beine fühlten sich wie Blei an und trotzdem rannte ich. Ich sprintete die Straße entlang und plötzlich kam es mir so vor, als spiele sich gerade alles in Zeitlupe an. Aufgeregte Stimmen, alle redeten durcheinander. Ich verstand nichts von alldem, meine Sinne schienen ihren Geist aufgegeben zu haben. Da war nur dieser schrecklicher Gedanke, diese schreckliche Angst vor dem, was mich dort erwartete. Mit aller letzter Kraft bahnte ich mir einen Weg durch die Menschenmenge frei, fuchtelte dabei wie wild mit meinen Armen herum und gab Worte von mir, die ich selber nicht verstand. Mitten im Lauf stoppte ich nun, es war, als würde plötzlich eine unsichtbare Wand vor mir stehen. Eine Wand, die mich aber nicht vor dem schützte, was da wie eine Welle auf mich zu kam und mir den Boden unter meinen Füßen riss. Arjeta lag da, ein Bein angewinkelt, um ihren Kopf herum hatte sich eine große Blutlache gebildet. Meine Knie knickten weg, ich fiel auf den kalten Asphaltboden, mein Blick weiterhin auf sie gerichtet. Und während sie so leise da lag, regungslos, ohne Leben, krabbelte ich auf allen Vieren zu ihr und gab einen ohrenbetäubenden Schrei von mir, den man durch ganz Köln hören konnte. 

„Arjeta!“ 

Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und wiederholte immer wieder ihren Namen, als erwarte ich eine Antwort von ihr, obwohl ich wusste, dass diese nie kommen würde. Nie mehr würde ich den Klang ihrer Stimme hören, nie mehr würde sie ihre Hand heben können, um mir über den Rücken zu streichen und mir zu sagen, dass alles gut werden wird. Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, die mir im Strömen aus den Augen schossen und die Sicht vor mir verschwimmen ließen. Polizei und Krankenhaussirenen, drangen nun in mein Ohr und wurden immer lauter. Jemand griff nach meinen Armen und versuchte mich hoch zu ziehen, doch ich ließ es nicht zu. Stattdessen klammerte ich mich an Arjetas Pulli, rüttelte verzweifelt an ihren Leblosen Körper und legte anschließend meinen Kopf auf ihre Brust. Polizei und Krankenwagen waren nun unmittelbar vor Ort, als mich erneut jemand von Arjeta wegziehen wollte, wehrte ich mich dagegen. 

„Fasst mich nicht an! Sie ist meine Freundin, sie ist meine beste Freundin.“, schrie ich herum. 

Ganz unbewusst sprach ich in der Gegenwartsform. Ich wollte es einfach nicht wahr haben. 

„Bringt eine Decke.“, flüsterte ich nun. „Bringt eine Decke, sie mag keine Kälte.“ 

Um mich herum hörte ich nur noch leises Geflüster. Mit meinen mittlerweile Blutverschmierten Händen, strich ich ihr über die Wange und hauchte ihr ein letztes mal einen Kuss auf die Stirn. Grob wurde ich nun von zwei Polizisten an den Armen hochgezogen. Und dann fühlte ich mich im nächsten Augenblick so kraftlos. Als sei mit diesem Kuss, mit dieser letzten Berührung, auch die Kraft aus mir heraus gesaugt worden. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß und der Raum um meinem Herzen fühlte sich hohl an. An die nächsten Minuten erinnere ich mich nur wage. Ich weiß nur noch, dass ich zu meinem Wagen schwankte und dem Krankenwagen hinterher fuhr.. 

Mehrere Stunden saß ich nun da. Ein lautes Klagen, durchbrach die Stille, die sich im Gang des Krankenhauses ausgebreitete hatte. Ich sprang vom Stuhl, wischte mir dabei die Tränen aus dem Gesicht und musste mich an der Wand stutzen, als plötzlich eine Frau in Kopftuch den Gang entlang kam. Ohne diese Frau jemals zuvor gesehen zu haben, wusste ich wer sie war. Die selben blauen Augen, die selben Gesichtszüge. Ein Mann ging neben ihr, hielt sie am Arm fest und sorgte dafür, dass sie nicht mitten auf den Gang landete. Auch er weinte, schien sich aber wegen seiner Frau zusammen zu reißen. Arjetas Mutter setzte sich auf einen Stuhl, direkt gegenüber von mir und ihr Weinen war herzzerreißender, als alles andere das ich bisher gehört hatte. Immer wieder schlug sie die Hände gegen ihren Kopf und wippte dabei ihren Körper vor und zurück. Mein Inneres zersprang, es blutete, während sie Allah fragte, wieso er ihr seine Tochter genommen hatte, während sie wünschte, dass sie an Arjetas Stelle sein würde und während sie flehte, Allah möge auch ihre Seele zu sich nehmen. Dieses Gefühl, das ich gerade verspürte, das kann man nicht nachempfinden. Dieser Schmerz, dieses Trauer war so intensiv, das ich nicht anders konnte, als laut auf zu schluchzen. 

„A je ti Dafina? (Bist du Dafina?)“, fragte mich plötzlich Arjetas Mutter. 

Ich nickte. Auf wackeligen Beinen ging ich auf sie zu, ließ mich vor ihr nieder und legte meinen Kopf an ihre Knie. Ich bat sie um Verzeihung, ohne zu wissen wofür. Ich sprach ihr meinen Beileid aus, wir weinten und trösteten uns gegenseitig, während sie mir dabei die ganze Zeit über das Haar strich, genauso, wie es Arjeta immer getan hatte. Genauso, wie sie es niemals wieder tun würde. Gibt es schlimmeres, als den Tod des eigenes Kindes zu erleben? Gibt es schlimmeres, als sein eigenes Kind zu begraben? Die Augen von Arjetas Mutter, der Schmerz, der aus ihnen funkelte sprachen Bände. Nein, es gibt nichts schlimmeres. 

„Wieso?“, fragte sie so urplötzlich, dass ich hochfuhr. 

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte meinen Kopf. Wieso eigentlich? Welch Verzweiflung, welch Schmerz, welch Leid und welch Qual muss ein Mensch durchlebt haben, um an diesen Schritt zu denken? Schlimmer noch, um diesen Schritt zu tun? Mit zitternden Knie stand ich auf, lief den Gang entlang nach draußen, in der Hoffnung, dass der Brief, der noch immer in Arjetas Zimmer auf mich wartete, mir Antworten geben würde. 

Draußen regnete es nun im Strömen. Völlig durchnässt stieg ich in den Wagen und fuhr zur Wohnung. Ein unsagbarer Schmerz lag in mir, meine Tränen fanden nach wie vor kein Ende und ich war müde, so müde! Aber ich durfte nicht schlafen, nicht jetzt. Deshalb war das erste was ich tat, nachdem ich die Wohnung betrat, zwei Linien von den Pulver zu schnupfen. Das Tütchen war fast leer und ich machte mir schon Gedanken darüber, woher ich Nachschub kriegen könnte. Und doch, sollte es das letzte mal sein, dass ich je wieder in Kontakt mit Drogen kommen würde. Ich wartete die Wirkung gar nicht erst ab, sondern ging geradewegs in Arjetas Zimmer und hob den Brief auf, der nun auf dem Boden lag. Ihr Duft hing im Raum, es war qualvoll, eine Tortur und trotz allem verspürte ich das Bedürfnis diesen Brief hier zu lesen. Vorsichtig ließ ich mich am Rand ihres Bettes nieder und begann zu lesen .. 

'Was geschieht, wenn die Fähigkeit, die Schmerzen zu ertragen, von den Schmerzen übertroffen wird? 

Ich fühle mich so komisch in letzter Zeit. So ausgepowert und müde. Müde vom Leben. Habe keine Lust und keine Kraft zu überhaupt nichts mehr. Wenn ich aufstehe, hoffe ich einfach nur, dass der Tag möglichst schnell vorüber geht. Um zu verstehen, musst du wissen, dass es nicht das erste mal ist, dass ich mich so fühle. Ich war vor ein paar Jahren in Therapie. Hab gegen meine Depressionen angekämpft. Gegen diese Schwärze, die mein Leben eingenommen hatte. Mit Erfolg. Mir ging es gut und dann ging es mir immer besser. Ich hab mein Studienplatz gekriegt, hab dich kennengelernt. Es ging bergauf. Bis er in mein Leben getreten ist. Bis er mich in eine Welt gezogen hat, die der Anfang meines Endes werden sollte. Ich bin an einen Punkt angekommen, an dem ich nicht mehr weiter weiß. Oder doch, eigentlich schon. Ich weiß genau, was zu tun ist. Ich weiß, dass ich mich bald von diesem Hotelzimmer stürzen und mir das Leben nehmen werde. Und ich weiß, dass ich viele offene Fragen hinterlassen werde, die ich wenigstens dir beantworten will. Dieser Brief ist nur für dich gedacht. Damit du verstehst ..' 

Ich hielt inne und japste nach Luft, dabei vielen meine Tränen auf den Brief und verwischten die Worte, die Arjeta geschrieben hatte. Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen und ich las weiter. Ich las, wie Kujtim sie dazu gebracht hatte ihren Körper zu verkaufen. Wie sie mit purer Verzweiflung nach dem Schuldenberg ihres Vaters und Kujtims ständigen Liebesbeteuerungen, das Angebot angenommen hat. Er liebte sie und würde sie immer lieben, es war nur schnelles und leichtes Geld. Es sollte auch nicht schlimm werden. KO Tropfen rein und fertig. Die Freier hatten so die Möglichkeit, an den Körpern der bewusstlosen Mädchen, ihre perversen, ekligen Fantasien auszuleben. Ihre Geldsorgen hatten ein Ende und auch die Erinnerungen fehlten, was das ganze jedoch in keinster Weise harmloser machte. 

'Du hast mich zu diesem Haus gefahren, du hast mich dort hingebracht, wo ich meine Seele an den Teufel verkauft habe und ich weiß zu 100%, dass Kaan und Kujtim dahinter stecken. Ich kann und will mit dieser Schande nicht leben. Das ganze hat mich wieder zurück in mein Loch gezogen und ich komme da nicht wieder raus. Aber du .. du bist stark. Das weiß ich. Du bist viel stärker als ich, du wirst es schaffen da raus zu kommen, weil du Leute um dich hast, die dir dabei helfen werden. Du musst jetzt kämpfen, okay? Versprich es mir. Kämpfe, bis zum letzten Atemzug und denke dabei an mich. So willst du nicht enden, so wirst du nicht enden! Das weiß ich. Außerdem musst du etwas wissen. Es war nicht Mergim. Er war es nicht, das ist die Wahrheit und du musst mir glauben. Er liebt dich Dafina, er liebt dich so sehr, dass ich mich manchmal ..' 

Ich schrack auf, als ich das Klingeln der Wohnungstür hörte. Schnell faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in meine Handtasche. Erneut klingelte es und diesmal jagte mir ein eisiger Schauer den Rücken herunter. Wer konnte das sein?

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Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt