Kapitel 6

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Kapitel 6 : 

War das etwa Agron? War er mir gefolgt, und wollte jetzt das zu Ende bringen, was er vorhin nicht geschafft hatte? Als ich von meinem Albtraum hochgeschreckt war, hatte ich kurz auf mein Handy geschaut. Da war es bereits 2 Uhr. Das war Agron! Wer würde sonst um diese Uhrzeit anklopfen? Ich schlich vorsichtig in den Flur und wagte es nicht einmal zu atmen. Zitternd erreichte ich die Wohnungstür, aber traute mich nicht durch den Spion zu gucken. Stattdessen lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Tür und schloss meine Augen. Er sollte weg! Einfach nur weg! Noch einmal klopfte es, und dann war es leise. Meine zitternde Hand lag auf meiner Brust, während die Minuten verstrichen. Erst als ich mich einigermaßen sicher fühlte, ließ ich mich behutsam nach unten gleiten und atmete erleichtert aus. Vielleicht hatte ich mir das gerade auch nur eingebildet? Wie auch immer, die Hauptsache war, dass er mir nichts tun konnte... 

Als ich wieder im Badezimmer war, zog ich meinen Rock aus und befreite mich von meinen klatschnassen Top, das mir mittlerweile am Körper klebte. Ich sah an mir herab. Meine Armen waren makellos rein. Ich trug gerne trägerlose Tops, oder Ärmellose Blusen und Oberteile. Niemals würde ich es wagen, meine Arme zu benutzten. Das würde nur Fragen geben. Fragen, die ich nicht beantworten wollte, die ich nicht beantworten konnte! Dafür müssten aber meine Oberschenkel daran glauben. Viele Narben entstellten dort meine Haut. Manche tiefer, manche länger. Ich wusste nicht mehr genau, wann das angefangen hatte. Vielleicht mit 12, oder mit 13. An den ersten Schnitt jedoch erinnerte ich mich zu gut. In dem ich mir selbst weh tat und mich praktisch bestrafte, vergaß ich für eine Weile den echten Schmerz. Den Schmerz meiner Seele, den mir die anderen zugefügt hatten. Jetzt saß ich am Wannenrand, mit der Klinge in der Hand. Ich weinte nicht. Das konnte ich in solchen Momenten nicht, da kamen einfach keine Tränen. Das war so, als wenn ich schreien wollte, aber kein Ton von mir gab. Meine lautlosen Schreie, so nannte ich sie. Ein, zwei, drei. Drei kleine Schnitte. Ich sah zu, wie in Sekundenschnelle das Blut aus den Wunden schoss, an meinen Oberschenkel herunter kullerte und dann auf die Fliesen tropfte. Das war mir aber nicht genug. Das andere Bein war dran. Wieder zog ich drei mal die Klinge durch meine Haut. Dann warf ich sie ins Waschbecken und legte meinen Kopf in den Nacken. Mit geschlossenen Augen genoss ich den Schmerz. Es half. Für ein paar Minuten zumindest. Ich drückte zwei Taschentücher auf die Wunden um die Blutung zu stoppen. Anschließend stieg ich in die Wanne und ließ das lauwarme Wasser über meinen Körper prasseln. Noch ein Tick Tortur, denn die frischen Wunden brannten unter Wasser...

Im Bademantel eingewickelt, saß ich auf meinem Bett und weinte leise vor mich hin. Nach so einer Aktion, war dieser Gefühlsausbruch normal. Ich hasste mich gerade dafür, dass ich nach über 6 Monaten, wieder zur Klinge gegriffen hatte. So lange hatte ich durchgehalten, aber nach der ereignisreichen Nacht und dem Traum, war der Druck und die Schwäche, letztendlich doch zu groß. Nachdem ich mich Bettfertig gemachte hatte, legte ich mich schließlich schlafen. Ein Glück, dass ich hier schon fast alles hatte. Nur Lebensmittel fehlten. Die würde ich dann Morgen besorgen. Mein Kühlschrank war leer und auch zu Trinken hatte ich nichts. Leitungswasser genügte mir jedoch fürs erste. 

Die ganze Nacht hatte ich mich hin und her gewälzt, aber schaffte es irgendwann doch noch einzuschlafen. Als ich am Morgen meine Augen öffnete, und durch das Fenster die grellen Sonnenstrahlen schienen, fiel ich vor Schreck fast vom Bett. Mein Handy war aus, der Wecker hatte nicht geklingelt! Blödes Akku! Hastig stand ich auf und stieß einen erschrockenen Schrei aus, als ich die Uhr im Wohnzimmer sah. Kurz vor 8 Uhr! 

„Verdammte scheisse!“, fluchte ich laut. 

Lautlose SchreieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt