Der Stein und die Diebin

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Kapitel 1

Ich hatte ihn bestohlen!

Nicht das ich mir deswegen tatsächliche moralische Vorwürfe gemacht hätte, aber ausgerechnet ihn zu bestehlen war nicht nur moralisch verwerflich. Es war Wahnsinn. Es war Selbstmord. Nie zuvor hatte ich mich so leichtsinnig in Gefahr begeben, wie ich es jetzt tat und schon gar nicht aus so niederen Beweggründen heraus. Ich stehle seit meiner Kindheit, das ja, aber dabei ging es in der Regel um Nahrungsmittel, manchmal auch Kleidung, selten einmal auch Schmuck, um diesen gegen Medizin oder Anderes wesentlich nützlicheres eintauschen zu können.

Doch dieser Diebstahl geschah nicht aus den Willen heraus zu überleben, er geschah aus Habgier. Nicht meiner Habgier, aber die eines Mannes, dem ich etwas schuldig war und der mich vor ein Ultimatum gestellt hatte. Entweder ich stahl das hier für ihn, oder ich arbeitete meine Schulden auf die eine Art ab, wie es Frauen taten, die keine solchen schnelle Finger hatten wie ich. In einem seiner Bordellen.

Die Entscheidung war mir also von Anfang an leicht gefallen. Selbst, wenn dieser Diebstahl hier anders war, als meine sonstigen. Normalerweise waren meine Opfer reiche Adlige, denen ich Dinge stahl, die sie sowieso zu viel hatten: Münzen, angeberischer Schmuck, hier und da sogar eines der edlen Tücher, mit denen ihre Frauen sich schmückten. Das war zwar nicht ungefährlich und könnte mich eine Hand kosten, wenn einer der Stadtwachen mich erwischte, aber niemals mein Leben.

Doch diese Tat, würde mich ganz unmittelbar auf das Schafott bringen und eigentlich war ich bei Erhalt dieses Auftrags, der festen Überzeugung gewesen, genau dort zu landen, aber zu meiner eigenen Überraschung habe ich es tatsächlich geschafft.

Ich habe ihn bestohlen.

Ich habe den Winterkönig um einer seiner wertvollsten Besitztümer gebracht. Einen Eisdiamanten, der in einem Zug aus königlichen Transportwaren in der Satteltasche eines Soldaten gesteckt hatte. Cedric, der Mann, den ich so viel zu verdanken hatte und der mich nun dazu zwang, quasi Selbstmord zu begehen, hatte nicht nur gewusst, wo sich dieses kostbarste aller Juwel befand. er hatte sogar gewusst, dass der Zug aus Soldaten, der es bei sich trug, genau hier Halt machen würde, um zu Rasten. Er hatte einen Plan gehabt, damit ich überhaupt eine Chance erhielt den Diamanten zu stehlen und der war aufgegangen. Es schien an ein Wunder zu grenzen.

Ich schloss meine warmen Finger um den faustgroßen Diamanten in meiner Hand und genoss das Gefühl der Kälte und den leichten Hauch von Magie, den er verströmte. Mir war von der Flucht, hinweg vom Ort der Tat, zurück in die engen Gassen der Armenviertel dieser Stadt, unfassbar heiß. Aber die Schweißperlen auf meiner Stirn waren nicht nur Ausdruck meiner körperlichen Anstrengung, sondern auch meiner Nervosität geschuldet. Dennoch blieb ich hinter einem der kargen Lehmhäuser stehen und erlaubte mir durchzuatmen und ein Blick auf das Kronjuwel zu werfen.

Ich hätte nie gedacht, es je wieder in den Händen zu halten.

In einem früheren Leben hatte ich es oft bei mir getragen. Aber in diesem früheren Leben war ich auch kein Namenloser Niemand gewesen, der für Essen und Kleidung stehlen musste. Ich war eine Prinzessin. Die einzige Tochter des Königs der Sommerlande. Ein verwöhntes Kind, dass mit goldenen Kugeln, seltenen Eisdiamanten und edlen Stoffen spielte und nichts von dem Elend wusste, der in der Welt herrschte.

Doch das war lange vorbei und nicht zum ersten Mal drückte ich die wehmütigen Erinnerungen zur Seite, die von Tag zu Tag mehr verblassten und mir langsam wie ein Traum vorkamen. Wunderschön aber nicht real. Ich war von Prinzessin Lilyanna, aus der Dynastie der Sommerlande, zu Lil geworden. Das Bastard-Mädchen einer Hure, die nach dem Tod ihrer Mutter durch die Straßen der Hauptstadt der Winterlande streifte. Die nicht wusste, wohin sie sollte oder wie sie überleben konnte. Lilyanna war von Zuhause geflohen, nachdem ihr Onkel erst ihren Vater, seinen eigenen Bruder, vergiftete und danach ihre Mutter erst ihrer Ehre und dann ihrem Leben beraubt hatte, weil sie sich geweigert hatte, den Mörder ihres Mannes zu heiraten.

Lilyanna war den Häschern ihres Onkels entkommen, weil sie immer eine unartige Prinzessin gewesen war und sich in den Geheimgängen des Palast herumgetrieben hatte, anstatt in ihren Gemächern Tanzschritte zu üben. Dann hatten treue Anhänger ihres Vaters, sie in Lumpen gehüllt und sie auf den Wagen eines Kohlkopfhändlers gesetzt, der in Richtung Winterkönigreich fuhr. Mit ein paar Münzen in der Hand, gerade so viel wie sie selbst hatten entbehren können, und einem Schreiben auf den der Name des Mannes stand, bei dem Lilyanna unter falscher Identität Unterschlupf suchen sollte: Cedrik.

Nun gab es Lilyanna nicht mehr. Sie hatte sich auf dieser Flucht selbst verloren. Es gab nur noch mich: Lil. Cedric, der Meister der Armenviertel, König der Huren und trotz allem ein fanatischer Anhänger der wahren Blutlinie der Sommerlande, hatte mich aufgenommen. Nicht als Prinzessin, sondern als Lil, die Tochter einer Hure, Bastard eines adeligen Freiers, der während der Machtergreifung des neuen Königs der Sommerlande, meinen Onkel, ebenfalls sein Leben verlor. Mich aufzunehmen war für ihn eine Frage der Ehre gewesen. Was nicht bedeutete, dass er mir nicht vorhielt, wie viel ich ihm schuldete und dafür eine Bezahlung verlangte. Er war kein guter Mann, aber einer der zu seinem Wort stand und das war mehr als ich hatte erwarten können. Ich, Lil, die längst vergessen hatte, was es hieß, eine Prinzessin zu sein.

Dieser Stein aber in meiner Hand katapultierte mich zurück in dieses andere Leben, an das ich nicht erinnert werden wollte. Die Bilder, die ich vor meinem geistigen Auge sah, waren schmerzhaft. Der Traum war längst zu einem Alptraum geworden. Mutters Tränen, als Vater starb, ihre Schreie als mein Onkel sich an ihr verging, der Trotz in ihren Augen, als sie sich dennoch weigerte ihn zu heiraten.

Das Volk von Sommerstadt, der Hauptstat der Sommerlande, war entsetzt gewesen, als es hatte mit ansehen müssen, wie ihre gutmütige Königin hingerichtet worden war, aber sie verstanden schnell, dass die guten Zeiten nun vorbei waren. Ihr König und ihre Königin waren tot und die Prinzessin verschollen, auch wenn wohl niemand mehr zu hoffen wagte, dass ich überhaupt überlebt haben könnte.

Durch Cedric, der Stolz auf seine Sommerländische Herrkunft war, hatte ich immer mal wieder mehr von dem erfahren, was in meinem Heimatland vor sich ging. Viele Adlige waren getötet worden, mitsamt ihren Familien. Jeder, der die Herrschaft meines Onkels angezweifelt hatte, war getötet oder verbannt worden. Bis der Wiederstand im Adel und in der Bevölkerung erstarb und sich die Menschen fügten.

So wie auch ich mich in meinem Schicksal gefügt hatte und den Rat des Mannes befolgte, der mich auf diesen Kohlkopfwagen gesetzt hatte: "Erzähl niemanden wer du bist, vertraue keinem und am besten solltest du es auch vergessen." Das hatte ich getan. Ich hatte es vergessen. Ich war von Lilyanna zu Lil geworden und nun kam alles zurück und Lilyanna drängte sich zurück in mein Bewusstsein. Ihre Trauer, ihre Wut, ihr Wunsch nach Rache und ihr Bestreben nach dem, was ihr genommen worden war: Ihr Zuhause. Es würde lange dauern, bis ich sie wieder verdrängt hatte, bis ich mich wieder daran erinnerte, dass es besser für mich war, einfach nur Lil zu sein. Ich konnte nicht beweisen, dass ich Prinzessin Lilyanna war und würde somit kaum Unterstützer finden, die mir halfen. Alles was ich erreichen würde, wenn ich wieder zu sie wurde, war es, meinen Onkel und seine Auftragsmörder auf mich aufmerksam zu machen. Ich würde sterben, das war alles. Selbst hier her in das Reich des Winterkönigs könnte sein Arm reichen oder vielleicht auch nicht. Das war egal. Ich würde es nicht riskieren. Ich war Lil und würde diesen Stein Cedrik überbringen um mir seine Gunst zu erkaufen um zu überleben und wieder vergessen zu können. 

Beta: noch nicht

Chroniken der Winterlande Band 1 & 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt