Kapitel 138
Lilyanna
Ich erwachte, weil die Sonne so weit hinaufgestiegen war, dass sie durch mein fensterloses und nur mit Tüchern behangenes Zimmer drang und eine erbarmungslose Hitze mit sich brachte. Ich versuchte mich in meinem Bett noch einmal umzudrehen, doch selbst die kühle Magie meines Diamanten schaffte es nicht, die Hitze zu vertreiben und noch einmal zum Einschlafen zu bewegen. Also erhob ich mich.
Es war angenehm, den kühlen Boden unter meinen nackten Füßen zu haben und ich nahm mir vor, Mutter stolz zu machen und selbstständig zum Frühstückssalon zu gehen. Ich wartete normalerweise bis eine Dienerin und Mutter selbst kamen, um mich aus dem Bett zu holen, aber heute wollte ich ein großes Mädchen sein.
Ich wollte...
Laute Stimmen drangen zu mir hindurch und als ich an der Tür des Arbeitszimmers meines Vaters vorbeilief, hörte ich ihn und meinen Onkel laut streiten.
Für einen Moment hielt ich inne, weil... das hier so nicht stimmte. Das Arbeitszimmer meines Vaters lag nicht mal in der Nähe meiner Räumlichkeiten. Niemals kam ich an ihnen vorbei, um zum Frühstück zu gelangen und als ich in der offenen Tür stehen blieb, bemerkte mich keiner der beiden.
Der Schmerz, der durch meine Brust schoß als ich meinen Vater sah, ließ mich zusammen zucken. Ich hatte vergessen, wie er aussah. Seine bronzefarbene Haut, dunkler als meine oder die von meiner Mutter, das sonnen gebleichte hellbraune Haar, die hellen Augen. Das alles war mir in laufe der Jahre entfallen. Ebenso, dass mein Onkel ihm fast zum Verwechseln ähnlich sah.
Nein. Nicht fast!
Man konnte sie verwechseln! Ich hatte es oft getan und Mutter auch. Und wenn es ihr passiert war, war sie immer furchtbar traurig gewesen. Onkel Oswald seinerseits hatte diesen wütenden Zug um die Lippen bekommen und sie angesehen als... wäre da etwas.
Ich schüttelte mich, blickte auf meine Hände herab, die nicht die eines Kindes waren, und plötzlich wusste ich, dass dies hier ein Traum war. Oder das Jenseits, denn ... ich war tot.
Ich war aus dem Fenster gestürzt ... nein, ich war ermordet worden.
"Das kannst du nicht tun, Juri! Sie sind unschuldig! Was auch immer du getan hast, sie haben damit nichts zu tun!", schrie mein Onkel und stemmte sich auf den Schreibtisch meines Vaters ab, der ihn fast schon mörderisch anblickte.
"Das sind sie und dennoch wissen sie zu viel. Genau wie du. Zwing mich nicht, dich ebenfalls zu hängen, Bruder", meinte mein Vater und Oswald presste die Lippen aufeinander.
"Es ist dein Ernst. Du tötest vier Frauen und zwei Ärzte, die das Pech waren bei ihrer Geburt dabei gewesen zu sein? Einfach weil..."
"Es sein muss! Ich werde keine Gerüchte in meinem Land dulden. Ich habe eine lebende, atmende Tochter, die Teil eines Vertrages ist, um uns vor einem Krieg zu bewahren! Wir können es uns nicht leisten Zweifel aufkommen zu lassen."
"Nur, dass diese Tochter tot auf die Welt gekommen ist und du, wer weiß, was getan hast, um das zu ändern", knurrte mein Onkel und das war der Moment, in dem mein Vater, mein geduldiger und liebevoller Vater, sich erhob, eine Klinge zog, die er immer trug und sie an den Hals seines Bruders hielt. In seinem Blick lag reiner Hass.
"Noch ein Wort Oswald und ich schwöre dir, bei allen Göttern. Den hellen und den dunklen: ich töte dich. Das ist ein Befehl deines Königs!", meinte mein Vater und ich sah, wie etwas Blut an der Klinge herab floss.
"Nein", hauchte ich in die Szene herein , doch niemand hörte mich und ich stolperte zurück. Nicht nur, weil ich meinen Vater auf diese Art und Weise sah, ich die Grausamkeit in seinen Zügen ausmachen konnte und sich dieses Bild nicht mit dem übereinbringen ließ, das ich von meinem liebevollen Vater hatte, sondern auch weil ... ich es nicht verstand. Gar nicht.
Ich war tot gewesen? Ich war...
Während ich zurückwich, stolperte ich und landete schmerzhaft auf meinen Hintern und ... Ich befand mich auf einem Waldweg. Die Szene hatte sich komplett verändert.
Um mich herum befanden sich Bäume, so hoch und mächtig, dass ich mir nicht einmal vorstellen konnte, dass ein Mensch sie fällen konnte. Ihre Stämme waren dunkel, ihr Laubdach so üppig, dass ich den Himmel kaum ausmachen konnte. Diese Wälder hatten nichts mit den dürren Nadelbäumen oder Palmen zu tun, die ich kannte. Das hier waren die unendlichen Wälder der Herbstlande, denn ich erkannte die Nüsse an den Zweigen, aus deren inneren allerlei Farben tropften, als würden sie harzen.
Die Färbenüsse. Das wichtigste Handelsgut dieses Königreiches. Ich kannte sie nur aus Erzählungen meiner Mutter und den Lehrstunden meiner Tutoren. Und sie hatten recht. Sie waren so reich gefüllt mit färbendem Saft, dass es auf die Blätter tropfte und die Bäume bunt
einfärbte. Wunderschön.
"HO! Seid ihr verrückt geworden!", hörte ich eine Stimme hinter mir und sah wie zwei Rösser um einender tänzelten. Dann das glockenhelle Lachen meiner Mutter in einem braun-roten Reitkleid der Herbstlande. Ihr goldenes Haar fiel offen über ihren Rücken und sie straffte ihre Schulter als der zweite Reiter, immer noch ungehalten auf sie einredete.
"Ihr könnt doch nicht einfach so aus der Bresche springen mit eurem Ungetüm eines Pferdes!"
"Ihr seid nur wütend, weil das Eurer Pferd Euch fast abgeworfen hatte! Ihr solltet nicht alleine die Wälder durchstreifen, für Fremdländische ist das Risiko groß, sich zu verlaufen!", meinte meine Mutter und nun erkannte ich den anderen Reiter. Mein Vater.
Das hier...war der Moment, in denen sie sich kennenlernten.
Mein Vater schnaubte sarkastisch und sich sah, wie er meine Mutter immer wieder musterte, genauso wie sie ihn. Immer wieder, als wären sie interessiert, obwohl sie sich stritten.
Ich kannte die Geschichte, meine Mutter hatte mir oft davon erzählt.
Wie sehr der galante Fremde es ihr angetan hatte, der sie dafür schaltete sein Pferd aufgeschreckt zu haben.
"Ich verlaufe mich nicht!", verkündete mein Vater großspurig, aber meine Mutter lachte nur wieder und die Mundwinkel meines Vaters zuckten.
"Aber ich nehme gerne euer Geleit in Anspruch", meinte er und lange sahen sie sich einfach nur an, bevor meine Mutter sich wieder straffte.
"Natürlich. Ich kann doch nicht zulassen, dass ein Gesandter des Sommerhofes in unseren Wäldern verloren geht. Das könnte einen Krieg auslösen", meinte sie tun, nun war es mein Vater der lachte.
"Kaum. Mein Bruder wäre froh, mich los zu sein. Ich mache ihn ständig nur Scherereien", meinte er und ich stutzte.
"Euer Bruder?"
"Der König."
Meine Mutter lachte wieder und hielt ihr Ross nahe neben seines. Doch das da auf dem Pferd war nicht mein Vater. Schockiert betrachtete ich ihn genauer.
Es war Oswald. Und ich verstand gar nichts mehr, meine Mutter hatte es immer so klingen lassen, als wäre mein Vater dieser Reiter gewesen. Hatte ich da etwas missverstanden oder ... hatte sie mich angelogen? Beides wäre möglich. Wer erzählt seiner Tochter schon gerne, dass man an einem anderen Mann Interesse gehabt hatte, doch wenn es Oswald gewesen war, den meine Mutter hier traf. Warum hatte sie dann meinen Vater geheiratet?
Das machte kein Sinn.
Meine Eltern hatten sich geliebt,das wusste ich mit Bestimmtheit und sie hatten es schwer, weil meine Mutter nur eine einfache Adlige gewesen war und mein Vater der König. Eine solche Mühe machte man sich doch nicht, wenn man einen anderen liebte.
Oder?
Als die Pferde sich entfernten, vernahm ich ein Knacken hinter und plötzlich sah ich Cedrik vor mir, der mich düster anlächelte.
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Chroniken der Winterlande Band 1 & 2
Romantik(jeden Freitag) Die Prinzessin, die sie einmal war, ist fast vergessen. Ihr Zuhause unerreichbar fern und dieses kalte Herz, das einst ihr gehörte, hatte nun eine Andere. Lilyanna hat sich längst mit ihrem neunen Leben als Flüchtling und gelegentlic...