Kapitel 21
Lilyanna
Ich hielt den Atem an als ich Kain erblickte und verstand nur die Hälfte von dem, was ich sah. Mein langjähriger Kindheitsfreund saß auf einen schmalen Hocker und lehnte mit dem Rücken an einer eingefrorenen Wand, vor der sein fadenscheiniges Hemd und seine Lederweste sicherlich nur wenig Schutz boten. Seine Arme waren an einer schweren Kette befestigt und ich konnte selbst von hier aus erkennen, dass das unebene Metall ihm unangenehm in die Haut schnitt. Aber das konnte er kaum verhindern, denn die Kette saß so straff, dass seine Muskeln und Gelenke bereits schmerzen mussten. Und dann war da noch diese ... naja, diese Röhre, die in seinen Arm geschoben war und an dessen Ende noch etwas Blut klebte. Man hatte ihm Blut abgenommen. Was mich aber an dem ganzen Bild am meisten besorgte, war, dass über Kains gesamter Körper eine Art Schimmer lag, als wäre seine Haut komplett vereist.
„Kain? Kain!", versuchte ich ihn anzusprechen, doch er gab keine Regung von sich und ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte um seine Aufmerksamkeit zu erregen. War er überhaupt bei Bewusstsein? Anstatt aber lediglich dazustehen wie eine verblödete Kuh, warf ich all meine Gedanken beiseite und versuchte diesen schockierenden Anblick nicht weiter zu beachten und fummelte an dem Schlüsselbund in meiner Hand herum. Ich probierte systematisch einen Schlüssel nach dem anderen, zuckte aber immer wieder vor den eisigen Gitterstäben zurück. Sie waren so kalt, dass es fast auf der Haut brannte und mir mittlerweile war fast jede Restwärme aus meinem Körper gewichen. Das machte es nicht besser. Ich zitterte am ganzen Körper und die weißen Wolken, die mein Atem in der Luft hinterließ, machten mir die Sicht unnötig schwer. Dennoch riss ich mich zusammen und versuchte die Kälte zu ignorieren, während ich weiter Schlüssel um Schlüssel ausprobierte und doch nicht den passenden fand.
Ich wollte zu Kain. Sehen, ob er noch lebte, ob er atmete, ihn einfach in den Arm nehmen und ...
Schritte erklangen. Die Wachen kamen immer näher und als ich auch an den letzten Schlüssel scheiterte, sank mein Mut in sich zusammen und war fast den Tränen nahe.
„Kain! Kain!" schrie ich meinem langjährigen Freund verzweifelt entgegen, aber noch immer bewegte er sich nicht. Aus reiner Frustration schlug ich gegen die Eisenstäbe. Natürlich bewirkte das rein gar nichts, aber der Gedanke, dass ich so nahe dran war zu ihm zu kommen machte mich trotzdem fertig. Zwar hatte ich nicht damit gerechnet überhaupt so weit zu kommen, aber ich hätte auch nie gedacht, Kain so vorzufinden! Was hatte Ducan ihm angetan? Was machten sie mit ihm und warum musste ich ihn in die ganze Sache nur mit hineinziehen?
War es meine Schuld, was gerade mit ihm geschah? Litt er oder war er gar tot? Bei dem Gedanken, er könnte tot sein, drückte sich mein Herz zusammen und ich schlug mir die Hand vor den Mund, um das Schlurchzen zu unterdrücken. Hier zu hocken und zu heulen würde nichts bringen, aber ... was sollte ich sonst tun? Was sollte ich ...
„Ihr hättet in Eurem Zimmer bleiben sollen!", drang die Stimme zu mir vor, die ich von allen auf der Welt nun am wenigsten hören wollte. Ducan! Ich hob meinen Kopf und spürte wie die Trauer von heißer Wut überspült wurde. Dann griff ich nach dem Schlüsselbund und warf ihn nach diesem Monster-König.
„WAS HAST DU MIT IHM GEMACHT?", schrie ich ihn an und hätte noch schlimmer aus der Haut fahren können, als der schwere Bund an ihm vorbeiflog. Nicht weil er sich gerührt hatte, sondern weil ich mit meinen halb erfrorenen Muskeln nicht richtig gezielt hatte! Bei den Göttern, wie sehr ich ihn gerade hasste!
Ich sah wie hinter ihm einige Wachen standen und mir, angesichts des Angriffes auf ihren König, vernichtende Blicke zuwarfen, aber Ducan hob eine Hand und sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Als wäre ich nicht gefährlicher als eine Fliege, die ihm lästigerweise um die Nase schwirrte aber bei der es sicherlich nicht nötig wäre, die erschlagen zu lassen. „DU ELENDES MONSTER! WAS HAST DU IHM ANGETAN? WARUM TUST DU IHM DAS ÜBERHAUPT AN? ER HAT NICHTS GETAN! ICH WAR DIEJENIGE, DIE DICH BESTOHLEN HAT, WIE KONNTEST DU NUR ..."
„Seit Still", gab er kalt zurück und in dem Moment versagte meine Stimme. Ich wusste erst nicht was geschehen war, dann aber spürte ich ein leichtes Prickeln in meinem Hals und wusste einfach, dass er gerade Magie anwandte. Dieser Mistkerl, dieser elende ...
Meine Wut kochte über und ich ging auf Ducan los, in der vollen Absicht, ihm irgendwie, irgendetwas anzutun. Aber noch bevor ich ihn überhaupt erreichen konnte, fing er meine Arme ein und drehte sie mir auf den Rücken. Ich versuchte mich, wie ich es einmal gelernt hatte, aus diesem Griff zu befreien und bereute es, mein Messer nicht bei mir zu haben. Aber wahrscheinlich hätte das meine Chancen auch nicht verbessert, denn meine Hände bewegten sich keinen Millimeter, als wären sie in dieser Position angeklebt//festgeklebt. Ich zappelte herum und spürte dann, dass er mich gar nicht mehr berührte, während meine Arme immer noch an meinen Rücken festhingen. Magie. Dieser Hund! Das würde er bereuen! Dafür würde er büßen, das schwor ich den Göttern.
„Ich habe Eurem Freund gar nichts angetan, ihn nur betäubt. Wir haben ihm etwas Blut abgenommen, aber er hat sich so heftig gewehrt, dass er sich selbst verletzt hat. Er schläft, spürt weder Kälte noch Schmerz. Wenn er wieder wach ist, wird es für ihn sein, als wären nur Sekunden vergangen. Es ist angenehmer als stundenlang hier in der Kälte zu sitzen." erklärte er und ich versuchte ihn dennoch üble Beleidigungen entgegenzuwerfen. Doch ich brachte sie nicht hervor.
Er hatte Kain doch hier unten in der Kälte gelassen! Er hatte ihm doch Blut stehlen wollen! Er war doch an allem erst Schuld! Und ich würde ihm erst glauben, dass Kain nicht passiert war, wenn er ihn wieder aufwachen ließ! Alles andere wäre dumm! Ducan konnte man nicht vertrauen!
„Das Gleiche sollte ich auch mit Euch machen. Ihr werdet von Minute zu Minute nervtötender", sagte er und begann dann vor meinen Augen sein enges Gewand aufzuknöpfen, das mit silbernen Ornamenten verziert war und so eng um seine Brust gelegt war, dass es seine schlanke Taille und seine breiten Schultern unnötigerweise vorteilhaft betonte. Darunter kam ein einfaches Leinenhemd zum Vorschein, dass zwar sauber verarbeitet, aber eher einfach gehalten war.
„Wenn Ihr noch länger hier unten geblieben wärst, hättet Ihr Euch den Tod holen können, ist Euch das überhaupt bewusst?", fragte er dann und obwohl seine Worte von so etwas wie Sorge zeugen könnten, lag nicht ein Hauch von Wärme in seiner Stimme. Er legte mir den schweren Stoff um die Schulter und obwohl mein Körper die Wärme gierig aufsaugen wollte, fing ich wieder an zu zappeln, um seiner „Fürsorge" zu entgehen.
„Wirklich nervig", murmelte er, schnipste mit dem Finger und sowohl meine Arme als auch meine Stimme löste sich nur wenige Sekunden bevor ich bewusstlos wurde.
Beta: Geany
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Chroniken der Winterlande Band 1 & 2
Romansa(jeden Freitag) Die Prinzessin, die sie einmal war, ist fast vergessen. Ihr Zuhause unerreichbar fern und dieses kalte Herz, das einst ihr gehörte, hatte nun eine Andere. Lilyanna hat sich längst mit ihrem neunen Leben als Flüchtling und gelegentlic...